Die Debatte über die Beziehungen der Schweiz mit der EU ist zu gegenwartsbezogen. Es fehlt die historische Einordnung. Das verheisst für die bevorstehenden Auseinandersetzungen im Parlament und für die dereinstige Volksabstimmung über die Bilateralen III nichts Gutes. Der Schweiz droht eine Zerreissprobe. Dies sollte wegen der weltpolitischen Lage und den Herausforderungen im Innern vermieden werden. Der Fokus müsste in der Europafrage deshalb stärker auf das «Was und Warum» gerichtet werden, und nicht nur auf das vertragliche «Wie».
Aussenminister Max Petitpierre kritisierte schon 1948, dass man sich hierzulande mehr Sorgen über die Entwicklung des Fleischpreises mache als über die Zukunft Europas. War es damals das Fleisch, so sind es heute die Spesen polnischer Spengler. Und die Sorgen Europas sind auch nicht kleiner geworden. Was Petitpierre damals zu Beginn des Kalten Krieges ansprach, war der Fehlstart, den die schweizerische Aussenpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg hinlegte. Dieser Fehlstart wirkt in der Europapolitik bis heute nach.
Bereits beim Briand-Plan von 1930, der mehr europäische Zusammenarbeit wollte, hatte sich die Schweiz nur für die Beseitigung von Handelshemmnissen interessiert. Nicht aber dafür, dass der französische Aussenminister mit seinem Plan den Frieden in Europa retten wollte. Der Nationalsozialismus und der Faschismus zerstörten diese Hoffnungen. Zwanzig Jahre und nach einem weiteren Weltkrieg später hatte die Schweiz nicht viel dazu gelernt. Statt den Schumanplan im Mai 1950 als europäisches Sicherheits- und Friedensprojekt zu erkennen, verurteilte man die Vergemeinschaftung von Kohle und Stahl als eine gegen die Schweiz gerichtete Diktatur. Die politischen Behörden und Vertreter der Unternehmerschaft verteufelten die geplante Montan-Union als zentralistisches Feindbild und als Gegenmodell zur föderalistisch und vermeintlich ultraliberal verfassten Schweiz. Dabei ging es diesen Kreisen primär um den Schutz der einheimischen Stahlindustrie vor ausländischer Konkurrenz .
Bern verpasste es wegen solchen Fehleinschätzungen, die nicht nur den Schumanplan betrafen, die kriegsbedingte Isolation zu durchbrechen. Man verharrte im Bilateralismus, einer engen Auslegung der Neutralität und kultivierte das Sonderfalldenken. «Seul les pays morts ne changent pas», stellte der grosse Historiker und Publizist Herbert Lüthy dazu lakonisch fest. Die Schweiz war nicht Willens oder in der Lage, die Montan-Union als politisches System sui generis zu begreifen, wo nationale Interessen verhandelt und durchgesetzt werden können. Andere Kleinstaaten, zuerst die Luxemburger, später die Dänen, die Finnen oder die Balten wussten diesen genuinen Zweck supranationaler Vergemeinschaftung besser einzuschätzen und auch zu nutzen.
Das helvetozentrische Weltbild, wonach sich die Welt um die Schweiz dreht, dominierte bis am 6. Dezember 1992 fast uneingeschränkt. Erst das Nein zum EWR führte zu einem Umdenken. Der Bundesrat stellte das Inseldasein der Schweiz in Europa in Frage: Mit einem «verworrenen Wischiwaschi» könne nicht gezeigt werden, dass es bei der Aussenpolitik «um wesentliche Interessen des Schweizervolkes» gehe, so der Bundesrat 1994 . Man wolle dem Volk künftig «klaren Wein» einschenken. Diese Einsicht wurde belohnt: Die Bilateralen I und II wurden 1999 bzw. 2004 trotz heftiger Gegenwehr der SVP deutlich angenommen. Nicht zuletzt deshalb, weil Bund und Kantone sich entschieden dafür eingesetzt hatten.
Wir sind in einer deutlich schwierigeren Lage als nach dem EWR-Nein. Die erste selektive Annäherung an die EU bis zum Abschluss der Bilateralen I war noch wirtschaftlich geprägt gewesen. Aber die Bilateralen II änderten dies endgültig. Sie sind keine Abkommen mehr, die ausschliesslich das Portemonnaie bedienen und betreffen auch innenpolitisch sensible Bereiche wie den Strom, die Sicherheitspolitik, Fragen der Zuwanderung, der Umwelt oder der Forschung. Viele sehen darin ein Risiko für die Schweiz. Dabei werden die real existierenden Verstrickungen und Einschränkungen der Schweiz in der Welt und in Europa ausgeblendet. Dem Volk wird gesagt, die Schweiz sei nur so lange souverän, wie sie die Macht habe, ihre Souveränität nicht mit andern teilen zu müssen. Mit dieser Haltung wäre die Schweiz nie gegründet worden. Den Bundesstaat gibt es nur, weil die Kantone 1848 freiwillig auf einen Teil ihrer Souveränität verzichteten. Sie wollten Zugang haben zu einem einheitlichen Wirtschaftsraum und zu einer Eidgenossenschaft, die bis heute nicht fertig gebaut ist und es wie die EU auch nie sein wird.
Wer Verflechtungszusammenhänge negiert, geht das Risiko ein, die politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen und die sich daraus ergebenden Konflikte zu verdrängen. Wer so handelt, ist nicht souverän und erweist der Schweiz einen Bärendienst. Das Volk will Lösungen sehen. In Zeiten epochaler Umbrüche schwindet das Gefühl der Berechenbarkeit und Vorhersehbarkeit zusätzlich. Die Stellung der Schweiz ist wegen des Ukrainekriegs und der damit einhergehenden Machtverschiebung von West nach Ost innerhalb der EU schwächer geworden. Dazu kommen die erneute Zer-störung einer regelbasierten Weltordnung, so wie wir es schon in den 1930er Jahren erlebt haben, der Klimawandel, Pandemien, die Unberechenbarkeit von bisher als selbstverständlich erachteten Lieferketten, speziell bei der Versorgung mit Energie, steigende Preise für Nahrungsmittel oder die Hundertausenden aus Afrika, die in Europa ein besseres Leben suchen. Von der disruptiven Kraft der sozialen Medien ganz zu schweigen. Die Hoffnung auf Kontrolle und Planbarkeit des eigenen Handelns wird kleiner. Und wenn demokratisch gewählte Regierungen die sich daraus ergebenden Zielkonflikte nicht entscheiden, wächst die Unsicherheit beim Wahlvolk. Die Erosion der bilateralen Verträge ist ein gutes Beispiel dafür.
Nachdem die Schweiz ihr Beitrittsgesuch 2016 zurückgezogen hatte, verlangte die EU definitiv, dass für alle Marktteilnehmer im Binnenmarkt die gleichen Regeln gelten. Aber die Schweiz wollte nicht mitspielen und die EU liess die Muskeln spielen. Ausgerechnet dort, wo unser Land das grösste Handelsvolumen erzielt, dort wo sie 2023 ein Warenhandelsvolumen von 296 Milliarden Franken umsetzte, was 60 Prozent ihres globalen Handels ausmacht, zeigte sie wenig Veränderungswillen. Erst die vom Bundesrat im vergangenen Dezember kommunizierten Verhandlungsergebnisse zu den Bilateralen III tragen dem Umstand angemessen Rechnung, dass der Gemeinsame Markt der EU für die Schweiz die eigentliche Grundlage ist, im Konzert der mächtigsten Welthandelsstaaten mitzumachen. Die Schweiz hat in Brüssel wohl das Optimum herausgeholt. Dies kann nach dem Verhandlungsabbruch vom Mai 2021 nicht hoch genug eingeschätzt werden. Die EU lässt sich vermutlich kein zweites Mal bitten.
Die Bilateralen III bringen mehr (Rechts)Sicherheit. Es gibt verlässlichere Spielregeln. Und zwar solche, auf welche die Schweiz auch in ausserordentlichen Situationen zählen kann. Unser sektorieller Zugang zum zweitgrössten Binnenmarkt der Welt erhält eine stabilere Grundlage. Forschung, Energieversorgung, Gesundheitsschutz und Lebensmittelsicherheit folgen nämlich nicht nur einer Binnenlogik. Sie sind auch einem grösseren europäischen Kontext geschuldet. Der institutionelle Überbau bringt dafür massgeschneiderte Lösungen und Mitsprache auf allen Ebenen. Weil die institutionellen Prinzipien neu in den einzelnen Abkommen ausdifferenziert werden, sind Ausnahmen bei der dynamischen Rechtsübernahme vorgesehen. Dazu kommen die Schutzklausel und transparente Streitbeilegungsverfahren. Das Institutionelle bei den Bilateralen III ist ein Souveränitätsgewinn für die Schweiz. Sie lassen dem Volk bei der Ausgestaltung der Beziehungen mit der EU weiterhin das letzte Wort. Ein Kolonialvertrag? Wohl eher nicht.
Noch ein Wort zu den Kantonen. 1993 gründeten sie die Konferenz der Kantonsregierungen. Das Ziel war mehr Mitsprache in der Europapolitik des Bundes. Die Kantone haben dem Bundesrat jüngst vor und in den Verhandlungen auf dem Weg zu den Bilateralen III den Rücken gestärkt. Sie profitieren schliesslich am meisten von stabilen Beziehungen mit der EU. Fünfzehn Kantone grenzen an die EU. Sieben von zehn der 250 untersuchten europäischen Regionen, die den grössten wirtschaftlichen Nutzen von der EU haben, liegen in der Schweiz. Dazu gehören beispielsweise die Kantone Zürich, Bern, Waadt und Tessin. Es wird Lösungen geben, damit die Sozialwerke aufgrund der Zuwanderung aus der EU nicht belastet werden. Und die Wirtschaft wird dafür zu sorgen haben, dass anständig bezahlt wird, wer gute Arbeit leistet. Die letzte Umfrage von gfs Bern zeigt, dass die Schweizerinnen und Schweizer den bilateralen Weg insgesamt positiv wahrnehmen.
Bundesrat und Parlament haben genug Rückendeckung, den Fehlstart in der Europapolitik nach dem Zweiten Weltkrieg zu korrigieren. Die Kantone werden dabei eine wichtige Rolle spielen, damit das Volk das falsche Narrativ vom «Kolonialvertrag» durchschaut.
Dr. Thomas Moser ist Mitglied des Vorstands der SGA ASPE. Er vertritt hier seine persönliche Meinung.
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Zu den BeiträgenDas Schweizer Mandat im UNO-Sicherheitsrat (2023 und 2024) fiel in turbulente Zeiten, der Rat hatte Schwierigkeiten, in den grossen Fragen Entscheide zu fällen. Jeden Samstag haben wir das Ratsgeschehen und die Haltung der Schweiz zusammengefasst.
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