Erfahrungen und Lehren seit dem ersten Schweizer Vorsitz 2014 gründlich aufarbeiten und im Verbund mit anderen Ländern einen Reformprozess der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) anstossen: Die Empfehlungen von alt-Botschafter Toni Frisch, 2015 bis 2021 an vorderster Front im Einsatz, an die Schweizer Präsidentschaft im kommenden Jahr: «Eine Chance, welche die Schweiz doch unbedingt entschlossen anpacken muss.»
Die Schweiz ist Mitglied der Troika und übernimmt nächstes Jahr erneut den OSZE Vorsitz. Das freut mich ausserordentlich und macht mich sogar etwas stolz. Eine Chance, welche die Schweiz doch unbedingt entschlossen anpacken muss. Von 2015 bis 2021 war ich Koordinator der «OSZE Arbeitsgruppe humanitäre Fragen», im Ukraine Friedensprozess. Nahm weit über hundert Mal an den Verhandlungen in Minsk teil, war dabei meist auch in der Ukraine und besuchte regelmässig den Donbass. Ich hoffe, dass aus meinen persönlichen OSZE Erfahrungen und Eindrücken, Lehren gezogen, während der Troika sowie darüber hinaus, eingesetzt werden und zu nachhaltigen Lösungen führen könnten.
Bis zum brutalen russischen Angriff im Februar 2022 hatte die OSZE eigentlich zwei Hauptaufgaben im schwelenden Konflikt in den Ostgebieten der Ukraine : Einerseits Verhandlungen zu führen, «to settle the crisis» und andrerseits die Überwachung des in den Minsk-Abkommen vorgesehenen Waffenstillstands. Dies durch die mehrere hundertköpfige SMM, Special Monitoring Mission, mit starker personeller Beteiligung der Schweiz.
Eines wurde mir jedoch sehr rasch klar. Die OSZE verfügte – und verfügt weiterhin – nicht über eine adäquate Struktur, um eine solch komplexe Aufgabe erfolgreich bewältigen zu können – eher eine Verwaltungs- als eine Konfliktbewältigungsstruktur. Die jährlich wechselnden Vorsitzenden, Aussenminster der verschiedenen Länder, waren in dieser Periode zumeist wenig involviert und setzten kaum oder keine Zeichen. Vorbildliche Ausnahme war der Deutsche Frank-Walter Steinmeier. Er zeigte sich als entschlossener und echter Leader.
Ausgeprägte Schwachstelle war jedoch der «Special Representative des OSZE Chairs», mit Sitz in Kiew. Er sollte die Trilaterale Kontaktgruppe «TKG» (Vertreter OSZE, UA, RF und, auf russischen Druck, die «Separatisten») koordinieren. Er war jedoch führungsschwach, eine Strategie fehlte, er fürchtete sich vor den Medien und insbesondere war er nicht neutral. Zudem drückte er sich in all den Jahren davor, den Donbass zu besuchen.
Die SMM und ihre Mitarbeitenden erfüllten ihre Aufgabe mit Akribie, denn Verletzungen des Waffenstillstandes gab es täglich zu hunderten. Aber die präzisen Beobachtungsergebnisse der SMM wurden eigentlich nicht genutzt. Die TKG-Mitglieder liessen es bei der verbalen Kritik an der anderen Seite bewenden.
Meine Hauptaufgaben waren: Ermöglichen des Zugangs humanitärer Organisation zu den Bedürftigen, Verbesserung der desolaten Zustände an den «Grenzübergängen zum Donbass», Gefangenenaustausch, Gefängnisbesuche und Verbesserung der teils sehr schlechten Haftbedingungen, in der Ukraine und vor allem in Donetsk und Lugansk. Kampf gegen Folterungen und unterstützt durch die UNICEF, Klären des Verbleibes von rund 1000 «entführten» Kindern und Jugendlichen.
Eine herausfordernde, aber sehr geschätzte Aufgabe. Mir fiel die Ehre und Rolle zu, als einziger, mit meinem EDA Mitarbeiter, den Zugang zu den Gefängnissen im Donbass erhalten zu haben. Dem IKRK wurde das in all den Jahren nie gewährt. Dies ist vielleicht auch eine Aufgabe, welche die OSZE bzw. die Schweiz, wiederum übernehmen könnte.
Entscheidend wichtig in der Arbeit war mir, als Humanitärer, absolute Neutralität vorzuleben. Dafür wurde ich aber auch sehr respektiert, denn ich kritisierte alle Parteien offen und in gleichem Masse, bei Missständen, Verletzungen des humanitären Völkerrechtes, bei Misshandlung oder gar Folterung von Gefangenen.
Meine Eindrücke und Besorgnisse habe ich nach jedem Besuch in Minsk in einem Bericht festgehalten. Dieser wurde vom EDA auch zur Kenntnis genommen…. Eine enge Zusammenarbeit hatte ich in seiner Amtszeit, mit OSZE-Generalsekretär Greminger und den hauptsächlich involvierten Schweizer Botschaften. Das EDA verpflichtete 2021 jedoch nicht einen Nachfolger für mich, sondern signalisierte, man suche nun eher «low hanging fruits».
Ich habe mich bereits vor drei und dann wieder vor zwei Jahren schriftlich an die parlamentarische Delegation OSZE gewendet, wurde dort jeweils auch angehört, stand ebenfalls in Kontakt mit Botschafterin Muriel Peneveyre, der jetzigen Leiterin der Task Force. Habe dabei vorgeschlagen und dringend angeregt:
Als Mitglied der OSZE-Führungstroika und 2026 als deren «Chair» muss die Schweiz zeigen, dass Neutralität kein Lippenbekenntnis ist. Sie muss zeigen, dass man sich hinter der Neutraliträt nicht verstecken soll, indem man sich möglichst aus einer Sache heraushält, sondern dass man im Gegenteil mutig überall da interveniert, wo es angezeigt ist. In letzter Zeit hat das leider sicher gefehlt.
Der russische Aussenminister, Lawrow, erwartet von der Schweiz, eine «inklusive» Präsidentschaft, die alle Seiten respektieren müsse. Neutralität bedeutet für ihn aber wohl eher, dass der kommende OSZE-Vorsitzende, Bundesrat Cassis, auf russischer Seite steht…..
Die Prioritäten des Chairs sowie der Task Force in Bern dürften für 2026 gesetzt sein, die Ukraine steht dabei sicher weit oben. Dieses Land hat, auch für Europa, in den mehr als drei Kriegsjahren Unglaubliches geleistet. Es verdient hohe Anerkennung, Aufmerksamkeit und Unterstützung. Ohne Pessimist zu sein, ist davon ausgehen, dass sich der Krieg gegen die Ukraine noch länger hinzieht. Mehr noch, dass die russischen Provokationen und Wühlarbeiten in mehreren Ländern weitergehen, ja sogar zunehmen. Und dennoch muss man sich auf eine Art «Nachkriegssituation» sprich «Waffenstillstand» in der Ukraine vorbereiten. Das gilt nun insbesondere für den OSZE-Chair, welcher der Motor sein muss. Was er als Vorsitz oder als Troika tut, wo er gezielt Arbeitsgruppen einsetzt, Szenarien und Optionen entwickelt, lasse ich offen. Es kann sein, dass sich die Situation unerwartet ändert, sich dabei plötzlich Möglichkeiten für gezielte Interventionen zeigen. Wo es gilt rasch, flexibel, innovativ und entschlossen zu handeln…
Dass Entscheide in der OSZE einstimmig getroffen werden müssen, wird die kommende Arbeit sicherlich erschweren, deshalb haben Interventionen von Ländergruppen vielleicht eher eine Chance auf Akzeptanz.
Trotz mehrmaliger Kritik der Russen – die Schweiz sei nicht mehr neutral – haben sie der OSZE Präsidentschaft zugestimmt. Vielleicht ein Zeichen, dass die Schweiz als Gastgeberin von Verhandlungen auf höherer Ebene – zwischen den Konfliktparteien – doch nicht ganz ausgeschlossen wird. Sicher kämen nach einem Waffenstillstand – wie ungünstig der dann für die Ukraine letztlich auch ausfallen könnte – praktisch alle vorher genannten Aufgaben, welche im Minsk-Prozess notwendig waren – erneut in Frage. Dazu die Überwachung der künftigen Demarkationslinie, eine klassische Aufgabe. Möglicherweise Mitarbeit bei der Entflechtung und Schaffung einer «neutralisierten Pufferzone». Und, was auch schon angeregt wurde, Schaffung einer «Sicherheitszone» um das Kernkraftwerk Zaporizhia.
Meine Hoffnung ist, dass die Schweizer Präsidentschaft in unserem Land überzeugt unterstützt wird. Dass damit insbesondere auch die Task Force über die nötigen Ressourcen verfügen kann, welche ebenfalls von den anderen Departementen zur Verfügung gestellt werden.
Wichtig, dass die Schweiz geschlossen auftritt und sich die politischen Parteien nicht in Querelen verlieren. Hier hat die parlamentarische Delegation OSZE schon jetzt eine wichtige Erklärungs- und Vermittlungsaufgabe.
Botschafter Toni Frisch war als Delegierter für Humanitäre Hilfe im Aussenministerium (EDA) der oberste Katastrophenhelfer der Schweiz. Von Mai 2015 bis Juni 2021 leitete er als Koordinator die OSZE-Arbeitsgruppe für Humanitäre Belange im Ukraine-Konflikt.
Der OSZE-Vorsitz ist Gegenstand einer Veranstaltung der SGA und der Helsinki-Vereinigung am 24. Oktober 2025 in Bern.
Kurz und kräftig. Die wöchentliche Dosis Aussenpolitik von foraus, der SGA und Caritas. Heute steht Kolumbien im Fokus. Guerillagewalt, Millionen Geflüchtete aus Venezuela und der Kollaps der Darién-Route machen das Land zum Brennpunkt der lateinamerikanischen Migrationskrise. Nr. 486 | 23.09.2025
Neue Beiträge von Joëlle Kuntz (La neutralité, le monument aux Suisses jamais morts) und Markus Mugglin (Schweiz – Europäische Union: Eine Chronologie der Verhandlungen) sowie von Martin Dahinden und Peter Hug (Sicherheitspolitik der Schweiz neu denken - aber wie?) Livre (F), Book (E), Buch (D)
Zu den BeiträgenDas Schweizer Mandat im UNO-Sicherheitsrat (2023 und 2024) fiel in turbulente Zeiten, der Rat hatte Schwierigkeiten, in den grossen Fragen Entscheide zu fällen. Jeden Samstag haben wir das Ratsgeschehen und die Haltung der Schweiz zusammengefasst.
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