Die Schweizer „Neutralitätsideologie“ ist zu hinterfragen. Ihre Fragwürdigkeit zeigt sich deutlich am Beispiel des nun schon über ein Jahr dauernden Ukraine-Krieges, dem unbestritten völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine (der, strenggenommen, schon mit der Annexion der Krim begonnen hatte).
Die Schweiz trägt zwar internationale Sanktionen gegen Russland mit. Sie weigert sich aber kategorisch, schweizerisches Kriegsmaterial freizugeben, das im Rahmen von Rüstungsgeschäften ins Ausland, zum Beispiel. nach Deutschland, geliefert worden war unter der Bedingung, lediglich für die eigene Verteidigung des Käuferstaates verwendet zu werden. Es darf nicht an einen Drittstaat weitergeben werden, der sich, wie im Fall der Ukraine, im Abwehrkampf gegen einen völkerrechtswidrigen, brutalen Angreifer befindet, um dessen Verteidigungskraft zu unterstützen.
Seine Haltung begründet der Bundesrat nicht nur mit dem jüngst noch verschärften Kriegsmaterialausfuhrgesetz, sondern auch der immerwährenden Neutralität der Schweiz, die sich auf internationales Neutralitätsrecht, als Teil des Völkerrechts, stütze, welches auf die Haager Konventionen von 1907 zurückgeht.
Bei näherer, unvoreingenommener, Betrachtung kommt jede Menge Ungereimtheit zum Vorschein:
Der Bundesrat stützt sich ausdrücklich auf das Neutralitätsrecht der Haager Konventionen von 1907 die vom neutralen Staat die Gleichbehandlung beider Kriegsparteien fordern, was einen Angreifer auf die gleiche Stufe stellt wie den Betroffenen, der sich wehrt. Mit der Ächtung des Angriffskriegs (durch den Völkerbund, den Briand-Kellogg-Pakt und die Uno-Charta) ist das Völkerrecht längstens über eine aus heutiger Sicht unverständliche Regelung hinweggekommen, die wohl nur mit der machtpolitischen Konstellation im ersten Weltkrieg erklärt werden kann.
Übrigens, was würde die Schweiz tun, wenn Deutschland kaltlächelnd in der Schweiz gekaufte Munition an die Ukraine weitergäbe und zudem erklärte, als Waffenlieferant komme die Schweiz künftig nicht mehr in Frage?
Wenn es für alle anderen Staaten vermutlich keine Bedeutung hat, benötigt die schweizerische Neutralitätspolitik aussenpolitisch gar kein internationales Neutralitätsrecht. Nur Für die staatstragenden Nationalpopulisten macht es irgendwie Sinn, ihren Neutralitätsmythos national explizite in der Verfassung zu verankern – aus rein innenpolitischen Gründen, für das Seelenheil, als zentrales Identitätsmerkmal einer auf niemanden angewiesenen Schweiz. Das ist der Mythos. In in Tat und Wahrheit hat die Schweiz ihre Neutralität politisch immer pragmatisch betrieben – nicht von Recht abgeleitet, sondern in Abhängigkeit von den Interessen und der Akzeptanz der Anderen, namentlich der Grossmächte.
*Hans Rudolf Isliker ist dipl. Bauingenieur ETHZ mit Nachdiplom in Raumplanung, ehem. Stv. Direktor des Bundesamtes für Verkehr und Generaldirektor des Zentralamtes für den internationalen Eisenbahnverkehr OCTI (heute Generalsekretariat der zwischenstaatlichen Organisation für den internationalen Eisenbahnverkehr OTIF)
Kurz und kräftig. Die wöchentliche Dosis Aussenpolitik von foraus, der SGA und Caritas. Heute steht Kolumbien im Fokus. Guerillagewalt, Millionen Geflüchtete aus Venezuela und der Kollaps der Darién-Route machen das Land zum Brennpunkt der lateinamerikanischen Migrationskrise. Nr. 486 | 23.09.2025
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Zu den BeiträgenDas Schweizer Mandat im UNO-Sicherheitsrat (2023 und 2024) fiel in turbulente Zeiten, der Rat hatte Schwierigkeiten, in den grossen Fragen Entscheide zu fällen. Jeden Samstag haben wir das Ratsgeschehen und die Haltung der Schweiz zusammengefasst.
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