Schweiz im Sicherheitsrat

Schweiz im Sicherheitsrat / KW 44-2024

Sudan: 25 Millionen sind auf Nothilfe angewiesen, 750 000 Personen haben Hunger (UN-Jargon: catastrophic food insecurity) und 11 Millionen sind vertrieben, davon 3 Millionen in die Nachbarländer geflüchtet. Humanitäre Hilfstransporte werden behindert, sexuelle Gewalt als Kriegswaffe eingesetzt, Ethnien systematisch verfolgt. Der UNO-Generalsekretär persönlich berichtete dem Rat vom “Alptraum”, in den der im April 2023 vom Zaun gebrochene Bürgerkrieg das afrikanische Land gerissen hat. Was tun? Die Bedingungen für die Entsendung einer UNO-Streitmacht seien nicht gegeben, erklärte der Generalsekretär, aber er sei bereit, “eine Reihe von operationellen Modalitäten als Antwort auf die Herausforderungen vor Ort” zu diskutieren. In der Debatte forderten die Ratsmitglieder einen Waffenstillstand, ungehinderten Zugang für humanitäre Hilfe, ein Ende der Belagerung der Provinzhauptstadt El Fasher und einen Stopp der ausländischen Waffenlieferungen. Die Schweiz wies wie andere Ratsmitglieder darauf hin, dass die Konfliktparteien sich vor über einem Jahr in Saudi-Arabien auf die Einhaltung des Kriegsrechts geeinigt hätten (Jeddah Declaration) – eine Verpflichtung, die offensichtlich nichts wert ist. Sie regte an, einen “Einhaltungsmechanismus” zur Überprüfung zu schaffen, empfahl lokale “humanitäre Pausen” und forderte Aufklärung der Kriegsverbrechen durch den Internationalen Strafgerichtshof und die vom UNO-Menschenrechtsrat in Genf eingesetzte fact-finding mission.

Israel-Iran: Einen Tag nach der vierteljährlichen Sitzung zum Nahen Osten hat der Rat sich auf Antrag Algeriens, Russlands und Chinas mit dem israelischen Vergeltungsangriff gegen den iranischen Vergeltungsangriff gegen die israelischen Angriffe auf Hisbullah-Personal im Libanon befasst. Alle Mitglieder riefen nach Deeskalation. “Beide Seiten müssen aufhören, die Grenzen der Zurückhaltung des anderen auszutesten”, erklärte der UNO-Vertreter. Der britische Vertreter sagte: “Iran darf nicht antworten”. Iran beliess es beim Angriff auf die USA («Komplize») und einer Forderung nach UNO-Sanktionen. Israel warnte, jeder weitere Angriff werde “rasch und entschieden” beantwortet. Die USA erklärten: “Wir werden nicht zulassen, dass die Zukunft der Region von Iran und seinen Vasallen bestimmt wird.” Weitere Angriffe Irans würden “ernste Konsequenzen” haben. Die Schweiz blieb allgemein: grave préoccupation. Sie forderte Waffenruhe an allen Fronten.

Gaza: Der israelische Parlamentsbeschluss, die Tätigkeit der UNO-Organisation für Palästinenserflüchtlinge UNRWA (UN Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East) zu untersagen, beherrschten die vierteljährliche Aussprache zum Nahen Osten. Die UNO-Vertreter beschrieben die Not der Zivilisten im Nordteil des Gazastreifens, der seit Wochen weitgehend von humanitärer Hilfe abgeschnitten ist, und wiesen auf die zentrale Rolle von UNWRA für solche Hilfsleistungen hin. Der palästinensische Vertreter nannte Israels Vorgehen einen “Völkermord”, warf dem Rat vor, sich durch Untätigkeit zum Komplizen zu machen (“stoppt diesen Genozid oder haltet den Mund”) und erklärte, Israel führe einen “Krieg gegen die UNO”. Israel erklärte, UNRWA sei “zu einer Front von Hamas” geworden, Hamas benutze die Zivilbevölkerung als Schutzschilde und es gebe sehr wohl humanitäre Hilfe an Gaza. In der Debatte, an der über 60 Staaten teilnahmen, wurden ein Waffenstillstand, die Freilassung der israelischen Geiseln und neue diplomatische Anstrengungen verlangt. Die EU schlug eine internationale Friedenskonferenz vor. Für die Schweiz sprach Bundesrat Cassis. Wie viele andere, beklagte er, dass die Sicherheitsratsresolutionen, die an den Vetos der USA und Russlands vorbei zustande gekommen sind, nicht beachtet werden: Appeler encore et encore les parties au conflit à respecter et à mettre en œuvre les décisions de ce Conseil est un exercice qui devient vide de sens. Die Schweiz unterstütze alle Versuche einer diplomatischen Lösung, so auch die von Saudiarabien, Norwegen und der EU lancierte “Globale Allianz”, an welcher sie sich beteilige. Zum israelischen UNRWA-Verbot erklärte Cassis, es sei en grande partie incompatible avec le droit international und gefährde die humanitäre Versorgung von Gaza. Die UNO habe nach Ansicht der Schweiz eine “zentrale Rolle” in der Region. Toute agence de l’ONU doit pouvoir faire son travail et venir en aide aux individus dans le besoin. Russland warf den USA vor, “neue Initiativen” im Rat zu sabotieren. Die USA erklärten, Israel müsse “unverzüglich” mehr für das Überleben der palästinensischen Zivilbevölkerung tun. Dabei gebe es “zu diesem Zeitpunkt keine Alternative zur UNRWA”, obwohl “kein Zweifel” bestehe, dass UNRWA-Personal in die Anschläge vom 7. Oktober verwickelt gewesen sei. Die Regierung in Washington widersetze sich “jedem israelischen Versuch, Palästinenser auszuhungern”, und “wir wiederholen: Es darf keine Vertreibung, keine Wiederbesetzung und keine territoriale Beschneidung von Gaza geben. Punkt”.

Ukraine: Wie fast zur Routine geworden, erörterte der Rat den Krieg gegen die Ukraine zweimal – das erste Mal die Stationierung nordkoreanischer Soldaten auf Antrag der Ukraine und von Ratsmitgliedern, tags darauf die westlichen Waffenlieferungen auf russischen Antrag. Beide Male standen die Nordkoreaner im Zentrum. Die UNO “kann” (oder darf) ihre Anwesenheit nicht bestätigen, liest aber die Berichte “mit Sorge”. Zahlreiche Redner – darunter die Schweiz – wiesen darauf hin, dass Russland die UNO-Waffenembargos gegen Nordkorea mitgetragen habe und nun dagegen verstosse. Die Schweiz forderte die Einhaltung des UNO-Embargos. Ein Vertreter der UNO-Abrüstungsbehörde verwies auf Berichte, wonach Russland auch Kriegsgerät und Munition aus dem Ausland erhalte, welche in seinem Krieg gegen die Ukraine eingesetzt würden. Er sagte, auf beiden Seiten werde verbotene Cluster-Munition eingesetzt.
Somalia: Die auslaufende UNO-Mission (UNSOM) wird durch eine auf maximal zwei Jahre befristete “Übergangsmission” (Transitional Assistance Mission) abgelöst. Ihr Mandat ist auf Ende Oktober 2025 befristet und kann um ein Jahr verlängert werden. Hauptaufgabe ist die Unterstützung des “Staatsaufbaus”, darunter freie Wahlen, die Einhaltung der Menschenrechte, die Hilfe beim Aufbau von Justiz, Polizei und Sicherheit und die Koordination der internationalen Hilfe. Die entsprechende Resolution wurde vom Rat einstimmig verabschiedet.

Westsahara: Die Verlängerung des Mandats von MINURSO (Mission des Nations Unies pour l’organisation d’un référendum au Sahara occidental) um ein Jahr wurde zu einem diplomatischen Menuett zwischen Algerien und den USA als penholder (Textautor), mit der Schweiz als Ratspräsidentin dazwischen. In der ehemals spanischen Kolonie geht es um die Ansprüche der de-facto Verwaltungsmacht Marokko und der einstigen Befreiungsbewegung Polisario, die von den Nachbarländern Algerien und Mauretanien unterstützt wird. MINURSO soll seit 1991 helfen, den Streit in einer Volksabstimmung beizulegen. Die Ratsverhandlungen drehten sich um die Benennung von Ross und Reiter («die Parteien» ?oder die tatsächlichen Kontrahenten?) und um die Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen (Marokko verweigert dem UNO-Menschenrechtskommissar seit neun Jahren den Zutritt). Am Ende brachte Algerien zwei Zusätze zur offenen Abstimmung, die beide zu wenig Stimmen erhielten und scheiterten. Die Schweiz stimmte mit Algerien, China, Guyana, Mosambik und Slowenien für Kritik («Besorgnis») an der Behinderung des UNO-Menschenrechtskommissars, enthielt sich aber bei der Forderung, MINURSO mehr Kompetenzen in diesem Bereich zu geben. Die Resolution wurde schliesslich mit 12 Stimmen bei 2 Enthaltungen (Russland und Mosambik) angenommen. Algerien nahm aus Protest nicht an der Abstimmung teil.

Libyen: Die UNO-Mission UNSMIL (UN Support Mission in Libya) wird lediglich bis Ende Januar kommenden Jahres verlängert. Falls bis dahin ein neuer UNO-Sonderbotschafter gefunden ist (die Suche läuft seit Monaten), läuft das Mandat automatisch weiter. Der Entscheid war einstimmig. Die USA warfen Russland vor, sich gegen die übliche Verlängerung um ein Jahr gesperrt zu haben.

Kolumbien: Das Mandat der UNO-Verifikationsmission, welche die Umsetzung des Waffenstillstands zwischen Regierung und Rebellen überprüft, wurde einstimmig um ein Jahr verlängert. Zum Mandat gehört die Beteiligung der Frauen, der Jugend, der Ureinwohner, der Schwarzen und der Landbevölkerung am Friedensprozess. Die Schweiz schrieb sich diese Vertiefung des Mandats auf die Fahne: Nous sommes donc satisfaits d’avoir pu plaider en faveur d’un mandat soulignant le role de la Mission dans le soutien aux victimes et aux survivants du conflit, y compris ceux qui sont affectés par la violence sexuelle et sexiste.

Kosovo: Verglichen mit den Schrecken von Gaza und der Katastrophe im Sudan ging es in der halbjährlichen Aussprache zur Lage in Kosovo um banalere Angelegenheiten: Poststellenschliessungen im serbisch bevölkerten Landesteil, Kontrolle über Schulen, allgemein die – vereinbarte – Schaffung eines serbischen Gemeindeverbands. Chefin von UNMIK (UN Interim Mission in Kosovo) berichtete von wachsenden Spannungen zwischen Serbien und Kosovo, Zunahme von “zivilem Aktivismus” und Einschränkungen der bürgerlichen Freiheiten. Der serbische Vertreter forderte Sanktionen gegen die Regierung in Pristina, die ein Klima der “Angst und Instabilität” schüre. Die kosovarische Vertreterin sagte, ihre Regierung schütze die Bevölkerung gegen “von Serbien gesponsorte Verbrecherbanden”. Beide lagen sich wegen der korrekten geographischen Bezeichnung der Gegend (“Republik Kosovo” vs. “Kosovo und Metohija”) in den Haaren. Die Anschuldigungen hallten in den Debattenbeiträgen wider. Die Schweiz bat Serbien, den Beitritt Kosovos zu internationalen Organisationen nicht weiter zu behindern, und sie forderte Kosovo auf, den serbischen Gemeindeverband zuzulassen. Die auf Distanz zur Europäischen Union bedachte Schweiz pries die Vorteile der europäischen Integration des Konfliktgebiets an: nous soulignons que l’intégration régionale est une condition préalable à la prospérité de la région.

Bosnien-Herzegowina: Der Rat hat das Mandat von EUFOR-Althea, der von der Europäischen Union geführten militärischen «Stabilisierungsmission», um ein Jahr verlängert. In der Debatte warnten zahlreiche Ratsmitglieder, darunter die Schweiz, vor sezessionistischen Bestrebungen und der Glorifizierung verurteilter Kriegsverbrecher in der serbischen Teilrepublik. Der Vorsitzende des bosnischen Präsidialrats warf Serbien vor, den «Anschluss» (er benutzte das historisch belastete deutsche Wort) der «Republika Srpska» zu betreiben. Serbien beteuerte, das sei nicht so. Russland warf dem für die zivile Umsetzung des Dayton-Abkommens von 1995 zuständigen «Hohen Repräsentanten» vor, die damals vereinbarte Gliederung in drei Teilrepubliken zu unterminieren und Bosnien in einen westlich dominierten «Einheitsstaat» verwandeln zu wollen. Die meisten Ratsmitglieder unterstützten eine Aufnahme Bosniens in die EU: «Die Zukunft Bosniens und des gesamten Westbalkans liegt in der Europäischen Union», erklärte Frankreich. Die Schweiz schwieg sich zu diesem Punkt aus. Sie forderte Bosnien indessen auf, die notwendigen Reformen durchzuführen und une société unie et inclusive auf den Weg zu bringen.

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Kurz und kräftig. Die wöchentliche Dosis Aussenpolitik von foraus, der SGA und Caritas. Heute steht Kolumbien im Fokus. Guerillagewalt, Millionen Geflüchtete aus Venezuela und der Kollaps der Darién-Route machen das Land zum Brennpunkt der lateinamerikanischen Migrationskrise. Nr. 486 | 23.09.2025

Eine Aussenpolitik für die 
Schweiz im 21. Jahrhundert

Neue Beiträge von Joëlle Kuntz (La neutralité, le monument aux Suisses jamais morts) und Markus Mugglin (Schweiz – Europäische Union: Eine Chronologie der Verhandlungen) sowie von Martin Dahinden und Peter Hug (Sicherheitspolitik der Schweiz neu denken - aber wie?) Livre (F), Book (E), Buch (D)    

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Das Schweizer Mandat im UNO-Sicherheitsrat (2023 und 2024) fiel in turbulente Zeiten, der Rat hatte Schwierigkeiten, in den grossen Fragen Entscheide zu fällen. Jeden Samstag haben wir das Ratsgeschehen und die Haltung der Schweiz zusammengefasst.

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