Die neuen oder ergänzten bilateralen Verträge würden die Beziehungen der Schweiz zur Europäischen Union enger und verbindlicher machen. In einer Aussenpolitischen Aula in Zürich ist diskutiert worden, ob sie die Unabhängigkeit der Schweiz unerwünscht einschränken oder aber die Position des Landes insgesamt stärken würden.
Knapp drei Wochen nach Veröffentlichung der Vertragstexte und der offiziellen Erläuterungen haben das Europa Institut an der Universität Zürich (EIZ) und die SGA die vorgeschlagene Stabilisierung und Weiterentwicklung der Beziehungen zur EU einer ersten Beurteilung aus rechtswissenschaftlicher und kontroverser politischer Sicht unterzogen. Obschon keine Umwälzung zur Debatte steht, hat die Schweiz eine für ihre Zukunft essentielle Entscheidung zu treffen, zumal sich der bisherige Zustand nicht erhalten lassen dürfte. Geleitet wurde die Veranstaltung von EIZ-Präsident Markus Notter.
Matthias Oesch, Professor für öffentliches Recht, Europa- und Völkerrecht an der Universität Zürich und SGA-Vorstandsmitglied, gab einleitend einen Überblick über die vertraglichen Beziehungen Schweiz – EU seit dem Freihandelsabkommen von 1972. Mit Ausnahme von Schengen/Dublin (Grenzregime, Polizeikooperation, Asylzuständigkeit) sind die Verträge statisch, so dass in den Fällen einer Beteiligung am europäischen Binnenmarkt bei Weiterentwicklung des EU-Rechts die angestrebte Einheitlichkeit (zum Beispiel der Produktevorschriften) verloren zu gehen droht. Zudem ist die Überwachung der Verträge, wie im Völkerrecht üblich, weitgehend den beiden Seiten überlassen. Seit 2008, da sich die Schweiz von einer Art Beitrittskandidat zu einem Drittland «degradiert» hatte und die Bilateralen nicht mehr als blosse Übergangslösung gelten konnten, machte die EU eine Regelung der institutionellen Fragen zur Bedingung für die Aktualisierung und Erweiterung des Vertragsnetzes.
Die langen Verhandlungen führten zu dem Resultat, dass sich die Schweiz erstens – mit einer Reihe konkreter Ausnahmen – zur dynamischen Übernahme neuen einschlägigen EU-Rechts verpflichten soll und dafür Mitwirkungsrechte bei der Vorbereitung neuer Erlasse erhält. Zweitens wird eine Streitschlichtung mittels eines Schiedsverfahrens vorgesehen, wobei die Auslegung von Begriffen des EU-Rechts durch den Europäischen Gerichtshof verbindlich ist. Dieser möge, räumte Oesch ein, an sich ein «Gericht der Gegenseite» sein; er werde aber als Gericht des gemeinsamen Binnenmarkts fungieren, und es bestünden keine Anzeichen für eine Tendenz gegen die Schweiz.
Insgesamt beurteilte Matthias Oesch das Vertragspaket als «systemisch stimmig». Es handle sich durchaus um einen erheblichen Schritt: Die Schweiz klinke sich sektoriell in den dynamischen europäischen Integrationsprozess ein. Alternativen wären einerseits ein Beitritt zur EU oder zum EWR, anderseits eine lockerere Bindung, nicht aber der Status quo, da die Binnenmarktverträge ohne Aktualisierung an Bedeutung verlören.
In der Diskussion lehnte SVP-Nationalrat Alfred Heer das Vertragspaket grundsätzlich ab. Die EU, sagte er, habe sich von einer wirtschaftlichen zu einer zentralistisch geführten politischen Union gewandelt. Wenn sich die Schweiz über ein übliches Wirtschaftsabkommen hinaus noch enger und faktisch ohne Kündigungsmöglichkeit an sie binde, verliere sie, schon heute nicht mehr unabhängig, noch mehr von ihrer Souveränität. Das Hauptproblem: Was an neuem EU-Recht künftig zu übernehmen wäre, wisse man nicht. Heer fragt sich sogar, ob ein Beitritt zur EU wegen der damit verbundenen Mitbestimmung nicht besser wäre als die neuen Bilateralen. Diese versprächen Vorteile nur für einige Exportunternehmen. Stattdessen sollten die anderen Optionen für die Aussenwirtschaft in der ganzen Welt offengehalten und genutzt werden.
Mitte-Nationalrätin Nicole Barandun befürwortet das Vertragspaket, weil es sich just dem alten Wunsch der Schweiz gemäss auf wirtschaftliche Themen beschränke. Es trage zum – keineswegs selbstverständlichen – Wohlstand bei und schränke die Beziehungen zu anderen Wirtschaftsräumen nicht ein. Für KMU seien indes die Nachbarregionen der Schweiz und nicht Märkte wie China entscheidend, betonte Barandun, Präsidentin des Stadtzürcher Gewerbeverbands. Die vorgesehene Rechtsübernahme berühre zwar unser System, doch hätten die institutionellen Regeln eine schützende Wirkung.
Jon Pult, SP-Nationalrat und Präsident der SGA, bestritt nicht, dass die Unabhängigkeit der Schweiz eingeschränkt sei. Es handle sich aber primär um faktische Abhängigkeiten, sei es etwa die Abhängigkeit vom Chips-Monopol Taiwans oder diejenige von der EU, auf die der Grossteil des Handelsvolumens entfällt. Ein verrechtlichtes Verhältnis zur Union lenke diese Abhängigkeit nun in geregelte Bahnen, so dass der kleinere Partner nicht unter die Räder gerate. Politisches und Wirtschaftliches lasse sich nicht mehr strikt voneinander trennen. So sieht Pult in den institutionell ergänzten Verträgen ein Mittel zur Wahrung nicht nur des Wohlstands, sondern auch der Unabhängigkeit. Angesichts der Herausbildung aggressiver, totalitärer, autoritärer oder nationalimperialer Mächte in der Welt betonte er zudem das politisch-strategische Interesse, am europäischen Rechtsgebilde teilzuhaben. Für weitere Kooperationen, auch im Bereich der Sicherheit, seien die Verträge eine Voraussetzung.
Das Argument des schützenden Rechts überzeugte Heer nicht. Es zähle die Macht. Er verwies auf Italien, das die Rückübernahme von Asylsuchenden nach Dublin-Recht verweigert, und auf die ebenfalls kaum rechtskonformen Grenzkontrollen Deutschlands.
Der Ton im Streitgespräch stieg, als es um die Personenfreizügigkeit ging. Für Heer bedeutet die «Grenzöffnung» den Verlust der Souveränität. Das Wohlstandsgefälle in Europa führe unweigerlich zu übermässiger Zuwanderung in die Schweiz. Barandun machte geltend, dass gerade das Gewerbe bei einer administrierten, kontingentierten Zulassung von Arbeitskräften zu kurz kommen würde. Auch die Freiheit von Schweizerinnen und Schweizern, im Ausland eine Arbeit zu suchen, sei nicht geringzuschätzen. Die Schutzklausel werde für die Meinungsbildung der noch Unentschiedenen nicht ausschlaggebend sein. Jon Pult hält diese Notbremse ausdrücklich für unnötig. Die Personenfreizügigkeit gilt ihm als Freiheitrecht europäischer Bürgerinnen und Bürger, zudem werde sie dem Land Arbeitskräfte auch in der Zukunft verschaffen, wenn die Bevölkerung einmal schrumpfen werde. Der Lohnschutz bleibe innerstaatlich gewährleistet, bestätigte Pult. In der SP werde nur das Stromabkommen umstritten sein. Dieser inhaltlich neue Vertrag kam sonst nicht zur Sprache, obwohl er die Bilateralen III attraktiver machen sollte als das 2021 aufgegebene Rahmenabkommen.
Kurz und kräftig. Die wöchentliche Dosis Aussenpolitik von foraus, der SGA und Caritas. Heute steht Aserbaidschans Beziehung zu Russland im Fokus. Einst postsowjetische Verbündete, distanziert sich Aserbaidschan seit 2020 zunehmend vom Einfluss des Kremls. Nr. 483 | 12.08.2025
Neue Beiträge von Joëlle Kuntz (La neutralité, le monument aux Suisses jamais morts) und Markus Mugglin (Schweiz – Europäische Union: Eine Chronologie der Verhandlungen) sowie von Martin Dahinden und Peter Hug (Sicherheitspolitik der Schweiz neu denken - aber wie?) Livre (F), Book (E), Buch (D)
Zu den BeiträgenDas Schweizer Mandat im UNO-Sicherheitsrat (2023 und 2024) fiel in turbulente Zeiten, der Rat hatte Schwierigkeiten, in den grossen Fragen Entscheide zu fällen. Jeden Samstag haben wir das Ratsgeschehen und die Haltung der Schweiz zusammengefasst.
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