Der ehemalige Staatsrechtsprofessor und freisinnige Politiker René Rhinow legt in einem fulminanten Buch dar, wo und wie die Schweiz sich verändern muss zur Behauptung im gegenwärtigen und zukünftigen Umfeld. Ein Kernpunkt: “Situative” statt starre Neutralität.
«Plädoyer für eine offene Schweiz» sind eigentlich drei verschiedene Bücher und umfasst trotzdem, barmherzigerweise für den eiligen Leser von heute, lediglich 133 Textseiten. Im ersten Teil unterhält sich Autor Rhinow mit der Zürcher Unternehmerin Nadine Jürgensen (ellexx universe AG) und dem ehemaligen SRG-Generaldirektor Roger de Weck über die gegenwärtige Staatskrise unseres Landes. Im zweiten Teil plädiert er für eine andere schweizerische Neutralität, von der heute noch offiziellen, “dauernden” oder gar “permanenten”, hin zu einer “situativen” Neutralität. Also eine Aussenpolitik nach Massgabe einer international gegebenen Situation, nicht umgekehrt, wo die schweizerische Praxis nach wie vor von einem starren Schema einer überholten klassischen Neutralität ausgeht. Schliesslich nimmt er mit “Das ewige Unbehagen, Beiträge zur schweizerischen Politik” das “Helvetische Malaise” seines prominenten Vorgängers an der Uni Basel, Max Imboden, wieder auf.
Rhinow sieht das Staatsschiff Schweiz, 1848 für ein Binnengewässer konstruiert, nun auf hoher See schlingernd, was seine Crew nicht wahrnehmen wolle. Es frappiert, wie kritisch der langjährige FdP-Ständerat den Bundesrat von heute, aber ebenso die vielgepriesene “Führung durch das Volk” via direkte Demokratie sieht. Zusammengefasst diagnostiziert er eine dem Zeitgeist und dem Stammtisch folgende Politik, anstelle einer klaren Strategievorgabe durch das Parlament und einer Führungsrolle des Parlamentes, dem Herzen der Demokratie.
Jürgensen wirft ihren kritischen Blick schwergewichtig auf die Medien, heute auf der notorischen Jagd nach dem clickbait, also der an der Oberfläche wirklicher Probleme bleibenden Suche nach schneller Gunst der Leserschaft. Zudem werde journalistische Selbstzensur ausgeübt: “man schreibt mit der Schere im Kopf.” De Weck meint, von den Europafreunden werde zu wenig Überzeugungsarbeit geleistet, während “die drei Milliardäre der Zuger Partners Gruppe (…) die Schweiz in ein alpines Singapur, mit allen denkbaren Potentaten und Demokraten auf der Welt ins Geschäft kommend” verwandeln wollen. Er beklagt die Nichtteilnahme Helvetiens am wichtigsten Vorhaben Europas, dem “allmählichen Aufbau einer europäischen Eidgenossenschaft”. Er sieht schweizerische Lebenslügen im Milizsystem, ausgerichtet auf ein Männerparlament mit zu Hause kochenden Frauen sowie im Wirtschaftsliberalismus – nicht Leistung, sondern Erbschaft begründet Reichtum in der heutigen Schweiz.
Rhinow fasst die Diskussion im ersten Teil seines Buchs zusammen: “Ich würde schon von Krise sprechen”. Er sieht ein Gegeneinander von Bürger und Staat, nicht mehr eine Identifikation des Einzelnen mit seinem Staatswesen.
Im zweiten Teil geht Rhinow davon aus, dass der Ukrainekrieg eine willkommene Gelegenheit darstellt, sowohl das offiziell geltende Neutralitätsdogma als auch die daraus fliessende gegenwärtige Politik des Bundesrates zu hinterfragen. Mit Blick auf eine seiner parlamentarischen Spezialitäten, die Sicherheitspolitik stellt er fest, was heute alle seriösen Experten kategorisch festhalten: Die Schweiz kann sich ohne resolute Verstärkung einer Kooperation mit der NATO und den inzwischen zahlreichen sicherheitspolitischen Initiativen der EU nicht selbst verteidigen.
In diesem aktuellen Zusammenhang ist allgemein zu fragen, warum der Bundesrat nicht schon längst ein offizielles Interesse an der Teilnahme der sog. ‘Koalition der Willigen’ der westlichen Demokratien angemeldet hat. Diese soll trotz des Trump’schen Schwanzeinziehens der USA vor Putin sicherstellen, dass die Ukraine nicht von russischer Aggression überrollt wird. Dies in Form von friedenserhaltenden Truppen der Schweiz, die in der Ukraine eingesetzt würden, oder zumindest deutsche Truppen im Kosovo ersetzen, die in die Ukraine wechseln. Damit würde die schweizerische Teilnahme an der Sicherheit Europas unter Beweis gestellt; zudem wäre das ein Beispiel einer im gegenseitigen Interesse liegenden näheren Zusammenarbeit der Schweizer Armee mit jenen unserer europäischen Partnerländern.
Von speziellem Interesse sind in diesem Teil Rhinow’s Feststellungen zum Dreiecksverhältnis aller Neutralität: zwei Konfliktseiten, im Ukrainekrieg Putins Russland einerseits sowie andererseits die Ukraine und Europa, müssen sich über die Nützlichkeit eines Neutralen einig sein. Dies ist mit Blick auf Putins Aggression und Völkermord in der Ukraine klar nicht der Fall. Unsere europäischen Partnerstaaten, so Rhinow,”stehen der Neutralität mit der Ausnahme Österreichs kritisch gegenüber (…) Sie wünschen sich (…) mehr (schweizerisches) Engagement und Solidarität”.
Im dritten Teil seziert Rhinow das andauernde “Helvetische Malaise”, indem er Grundsatzfragen zum schweizerischen Selbstverständnis aufwirft: “Ist die Schweiz heute noch eine Eidgenossenschaft?” Die alarmierende Feststellung: “Der wachsende Hang zum Autoritären”. Und die Entgegnung darauf: “Demokratie als kulturelle Eigenschaft”. Weiter: “Konkordanz vs. Mehrheitsdemokratie:. Schliesslich: “Die Schweiz – ein Igel?” Und auch hier die Antwort darauf: “Wir brauchen die Europäische Union”.
Zum Schluss sind einige Medienartikel von Rhinow aus den 90er und Nuller Jahren wiedergegeben. Sowie ein Artikel vom Herbst 2023 im Journal 21, “Kultur und Gemeinsinn als Schlüssel zur Zukunft”. Sie zeigen das Einstehen des Autors für eine offene Schweiz und die dazu notwendigen politischen Weichenstellungen.
Man wünschte sich mehr Persönlichkeiten im heutigen Parlament, wie den freisinnigen Ständerat René Rhinow, der Baselland 1987-99 im Stöckli vertreten hat.
René Rhinow, Plädoyer für eine offene Schweiz, Essay zur Friedensneutralität. . Verlag Hier + Jetzt, Zürich, 2025. 133 Seiten. Fr. 43.90 (auch als e-book erhältlich).
Kurz und kräftig. Die wöchentliche Dosis Aussenpolitik von foraus, der SGA und Caritas. Heute steht Aserbaidschans Beziehung zu Russland im Fokus. Einst postsowjetische Verbündete, distanziert sich Aserbaidschan seit 2020 zunehmend vom Einfluss des Kremls. Nr. 483 | 12.08.2025
Neue Beiträge von Joëlle Kuntz (La neutralité, le monument aux Suisses jamais morts) und Markus Mugglin (Schweiz – Europäische Union: Eine Chronologie der Verhandlungen) sowie von Martin Dahinden und Peter Hug (Sicherheitspolitik der Schweiz neu denken - aber wie?) Livre (F), Book (E), Buch (D)
Zu den BeiträgenDas Schweizer Mandat im UNO-Sicherheitsrat (2023 und 2024) fiel in turbulente Zeiten, der Rat hatte Schwierigkeiten, in den grossen Fragen Entscheide zu fällen. Jeden Samstag haben wir das Ratsgeschehen und die Haltung der Schweiz zusammengefasst.
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