Lesetipp

Ohne geeinten Bundesrat wird’s schwierig

Welche Lehren lassen sich aus den Verhandlungen über den EWR, die Bilateralen, das InstA und das soeben geschnürte EU-Vertragspaket ziehen? Der ehemalige Handelsdiplomat Philippe Nell zieht Vergleiche und leitet daraus 30 Lektionen ab.

 

Der Autor ist ein Insider: Philippe Nell war seit den 80er Jahren aktiv beteiligt an den Verhandlungen mit der EG/EU und weiteren Handelspartnern. Nun zieht er Bilanz: mit einem systematischen Vergleich der Verhandlungen über die Schaffung eines Europäischen Wirtschaftsraums, über die nach dem Scheitern der EWR-Beteiligung angestrebten sektoriellen Marktzugangs- und Kooperationsabkommen, über ein «Rahmenabkommen» (InstA) und, nachdem dieses versenkt war, über abkommensspezifische institutionelle Regelungen und weitere Sektorabkommen. Daraus destilliert der Autor Lehren für erfolgversprechendes Verhandeln. Alleinstellungsmerkmal des detailreichen Buches: es ist eine Innensicht aus der Perspektive des bisweilen einsamen, zwischen Hammer und Amboss operierenden Unterhändlers, ein instruktiver Einblick in den Maschinenraum der Diplomatie.

Wesentlich bereichert wird die Publikation durch ein temperamentvolles Vorwort von alt Bundesrat Joseph Deiss. « De bricolage en bricolage », nennt Deiss den bisherigen Umgang mit Europa und warnt, angesichts der aktuellen geopolitischen Verwerfungen könnte sich die Schweiz rasch in existenziellen Schwierigkeiten wiederfinden.

Ohne Beitrittsgesuch keine Bilateralen

Nicht erst seit dem 6.12.1992 ist die Schweiz auf einem einsamen Trip. Bereits in den EWR-Verhandlungen mussten unsere Unterhändler die Erfahrung machen, dass sie mit ihrem Beharren auf weitgehenden Mitsprache- und Mitbestimmungsmöglichkeiten alleine dastehen. Ihre EFTA-Partner legten darauf weit weniger Wert. Sie hatten sich mehrheitlich bereits dafür entschieden, uneingeschränkte Mitbestimmung anzustreben, die nur durch Vollmitgliedschaft zu haben ist. Spät zog dann auch die Schweizer Regierung den Schluss, es könne sich beim EWR nur um einen Zwischenschritt handeln, Mitbestimmung und mithin Selbstbestimmung gebiete den Beitritt zur Gemeinschaft.

Es gehört zu den Verdiensten des Buches von Philippe Nell zu dokumentieren, dass der Beschluss des Bundesrates vom 18. Mai 1992, in Brüssel ein Gesuch um die Eröffnung von Beitrittsverhandlungen zu deponieren, keineswegs aus heiterem Himmel und gewissermassen aus einer Laune heraus erfolgte. Vielmehr war das Gesuch die Kulmination eines mehrjährigen Reifungsprozesses und die Folgerung aus dem, gemessen an (überzogenen) schweizerischen Erwartungen, enttäuschenden Verlauf der EWR-Verhandlungen. Zu Recht moniert der Autor, dass der Beschluss im Hinblick auf die EWR-Volksabstimmung in argumentative Schwierigkeiten führte, dass es an politischer Terrainvorbereitung mangelte und dass die Zeit, den historischen Paradigmenwechsel vor dem Urnengang vom Dezember 1992 plausibel zu machen, schlicht zu kurz war.

Ein weiteres Verdienst des Buches liegt darin, unwiderleglich aufzuzeigen, dass das Beitrittsgesuch konstitutiv war für die Bereitschaft Brüssels, Hand zu bieten zu sektoriellen Sonderregelungen. « Déposé à Bruxelles, la demande d’adhésion plaça la Suisse parmi les pays candidats et l’intérêt du Conseil fédéral de poursuivre dans cette voie après le 6 décembre 1992 joua un rôle déterminant dans la décision de la CE d’accepter de négocier des accord bilatéraux. Avec l’éloignement progressif de la Suisse d’une adhésion au cours des années 2000 et la persistance de problèmes dans quelques accords, l’UE revint à la charge pour exiger un régime institutionnel rigoureux. »

Die Einsicht ist essentiell: für Brüssel bildete das Geflecht der «Bilateralen» stets nur ein Provisorium, eine kurzzeitige Übergangslösung auf dem Weg zum Beitritt, während sich das Konstrukt in schweizerischer Sicht bald einmal zur Dauerlösung verdichtete, ja zum «Königsweg» hochstilisiert wurde. Umgekehrt galt der EWR der Schweiz 1992 als institutionell unbefriedigende Übergangslosung, die durch einen baldigen Beitritt überwunden werden sollte, während sich einzelne nicht beitrittswillige EFTA-Partner, unbesehen der Souveränitätseinbussen, dauerhaft darin einrichteten und damit der EWR sich als langlebige europapolitische Option erwies.

Vermintes Terrain

Zu den in der Schweiz gerne vernachlässigten Voraussetzungen erfolgreicher Verhandlungen gehört Sensibilität für Interessenlage, Logik und Spielraum der Gegenseite. So mussten Schweizer Unterhändler wiederholt die Erfahrung machen, dass die EG-/EU-Kommission auf stur stellt, wenn Ausnahmen vom Acquis communautaire verlangt werden, die an die Homogenität des Binnenmarkts rühren. « Il était essentiel », beschreibt Nell die EU-Haltung, « que le marché soit homogène, doté d’une sécurité juridique avec les mêmes règles pour tous. » Für dauerhafte Ausnahmen gibt es also seit jeher wenig Spielraum. Und doch tut man sich hierzulande immer wieder schwer, dass man mit Sonderfall-Plädoyers auf Granit beisst.

Dick markieren sollte man auch Nells Hinweis auf eine rekurrente helvetische Fehlperzeption, die anzusprechen sich der EU-Ministerrat 2012 bemüssigt sah: « que la Suisse n’est pas seulement engagée dans une relation bilatérale avec l’UE, mais participait à un projet multilatéral ». Die Einsicht ist essentiell, um beispielsweise zu begreifen, dass es sinnlos ist, den EuGH als Institution des Binnenmarkts, an dem wir teilhaben wollen, «wegverhandeln» zu wollen.

Mit Blick auf das nun vorliegende Vertragspaket urteilt Nell, die EU-Kommission habe sich sehr konstruktiv und geduldig gezeigt und die Schweiz habe ein ausgezeichnetes Resultat erzielt: Aufrechterhaltung eines massgeschneiderten Zugangs zum europäischen Binnenmarkt, zusätzliche Marktzugangs- und Kooperationsabkommen, klare institutionelle Regeln, Rechtssicherheit sowie einzelne innenpolitisch als unentbehrlich erachtete Ausnahmen. Besonders hebt der Autor hervor, die vereinbarten Streitbeilegungsverfahren gewährten der Schweiz im Fall von Divergenzen erstmals Schutz vor willkürlichen und unverhältnismässigen Massnahmen des Partners.

Dennoch sieht der Autor das Verhandlungsergebnis von 2024 noch keineswegs in trockenen Tüchern. Er spricht es nicht explizit aus, aber der aussenpolitische Spielraum ist in den letzten drei Jahrzehnten unter dem permanenten Sperrfeuer einer immer stärkeren und verbisseneren SVP geschrumpft, und andere Parteien machen der europhoben Kampagne öfter Konzessionen als dass sie den Europadiskurs in vernünftige, realistische Bahnen zurückführen. In einem Punkt nimmt der ansonsten sehr diskrete Autor kein Blatt vor den Mund: « L’UDC a habilement miné le terrain avec trois initiatives populaires dont deux qui remettent directement en question des accords clés avec l’UE, la libre circulation des personnes et Schengen. » Nell warnt: « Le défi sera énorme » !

Lessons learnt

Aus reicher Verhandlungserfahrung zieht der Autor schliesslich 30 Lehren bezüglich Voraussetzungen und Rahmenbedingungen, Führung und Abschluss von Verhandlungen sowie der Durchsetzung und Implementierung der Ergebnisse. Diese Lessons learnt illustriert er jeweils anhand der mit Brüssel und anderen Partnern (zum Teil durch den Autor selber) geführten Verhandlungen. Dabei findet sich scheinbar Selbstverständliches, etwa dass erfolgversprechendes Verhandeln voraussetzt, dass man sich in Sichtweisen des Gegenübers hineindenkt und dessen Erwartungen gebührend Rechnung trägt. Oder dass ein Plan B unabdingbar ist. Bedenkenswert auch die Einsicht, dass jedes Ergebnis von Verhandlungen mit der EU-Kommission in der Ratifikationsphase von einzelnen Mitgliedstaaten wieder in Frage gestellt werden kann, was das Antizipieren länderspezifischer Interessen und Sensibilitäten unumgänglich macht.

Zu den grundlegenden Lektionen zählt, dass es in der Demokratie, zumal der semidirekten, unverzichtbar ist, die Öffentlichkeit am Anfang wichtiger Verhandlungen über Ziele, Herausforderungen und angestrebte Ziele zu informieren. Während den Verhandlungen muss aber gelten: « Une négociation ne doit pas être menée sur la place publique. » Die Vertraulichkeit von Verhandlungen ist für Nell essentiell für deren Gelingen. Natürlich soll über den generellen Verlauf orientiert werden, nicht aber über einzelne Positionen, da dies die Unterhändler jeden Spielraums berauben und die Verhandlungen zum Scheitern verurteilen kann.

« C’est clairement une grave erreur de formuler des positions en lignes rouges dans une vaste négociation. Le négociateur devrait toujours garder une voie de sortie pour flexibiliser des positions et effectuer des compromis. » Dies eine weitere Lektion, die Nell aus den EU-Verhandlungen zieht. Und: « Un grand projet doit être soutenu par l’ensemble du gouvernement. » Mangelnde Unterstützung, ja Ablehnung des EWR durch einzelne Bunderäte habe zur Verunsicherung der Öffentlichkeit und damit letztlich zur Ablehnung des Vertragswerks geführt. Um vom Parlament und anschliessend von den Stimmberechtigten akzeptiert zu werden, brauche das heute vorliegende Vertragspaket die entschlossene Unterstützung der gesamten Regierung, einschliesslich der beiden SVP-Mitglieder, stellt der Autor warnend fest. Auch hier: «Le défi sera de taille»!

Das Schweizer Paradox: Dabei sein, aber nicht mitmachen

Einer Frage geht das Buch geflissentlich aus dem Weg: warum überhaupt diese epischen Verhandlungen? Die Antwort ist einfach: weil sich die Schweiz einen einsamen, aus europäischer Sicht exotischen Sonderweg verordnet hat. Andere vertreten ihre Interessen permanent in den europäischen Gremien. Die Schweiz versucht’s im Alleingang von ausserhalb. Das ist aufwändig, mühsam, oft frustrierend, stets absturzgefährdet. Es schadet nicht, sich gelegentlich in Erinnerung zu rufen, dass wir uns seit 1992 in der paradoxen Situation befinden, unbedingt dabei sein, aber ja nicht mitmachen zu wollen. Mittendrin, aber ausserhalb. Vollintegriert, aber ungebunden. Nell schreibt’s nicht so, aber seine Schilderung der rekurrenten Verhandlungen führt es uns drastisch vor Augen.

Die Darstellung bewegt sich in einem gegebenen Rahmen. Der Autor hält sich an das, was verhandelt und ausgehandelt wurde, ohne zu fragen, ob mehr oder grundsätzlich Anderes hätte angepeilt oder erreicht werden können. Einem ehemaligen hohen Beamten vorzuwerfen, sich innerhalb des Vorgegebenen zu bewegen, wäre unfair. Seine Analyse ist erhellend, aber ein Plädoyer für eine mutigere, kreativere, produktivere Europapolitik ist es nicht. Und eine europapolitische Streitschrift, die über den immer steileren bilateralen Pfad und die Selbstsatellisierung der Schweiz inmitten Europas hinausweisen würde, erst recht nicht. Eine luzide Rückmeldung von der Verhandlungsfront ist das Buch alleweil.

 

#Schweiz-EU

Das Buch

Philippe G. Nell, Négociations Suisse – Union Européenne, Regard critique sur deux grands échecs et nouveaux espoirs, Editions Slatkine, Genève 2025, 400 pages, 35 frs.

Rudolf Wyder ist Vizepräsident der SGA-ASPE

 

 

 

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