Interview

Niedrige Zölle? «Damit ist es auf absehbare Zeit vorbei»

Das Verhalten der US-Regierung, namentlich ihre Zollentscheide, erschüttern die Welt, und die Schweiz muss zur Kenntnis nehmen, dass sie keine Sonderstellung als «sister republic» geniesst. Wie schätzen Sie die Lage ein?

Es ist die herausforderndste Situation, an die ich mich in meinem Erwachsenenalter erinnern kann. Der Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine 2014, die Aufhebung der Amtszeitbegrenzung des chinesischen Präsidenten 2018, und die Wahl von Donald Trump in den USA 2016 signalisierten eine politische Zeitenwende, die viele erst 2022 registrierten. In den drei massgeblichen Grossmächten haben sich Personen und Kräfte durchgesetzt, die sich intern wie extern nicht mehr an Regeln halten wollen. Das alles wurde abgerundet durch die Pandemie, als sowohl Russland als auch China massiv und erfolgreich Einfluss auf die westliche Öffentlichkeit nahmen. Spätestens seit dieser Zeit ist der Riss durch unsere Gesellschaften sichtbar geworden. Was jetzt gerade in den USA passiert, könnte durchaus etwas sein, was sich in der einen oder anderen Form anderswo wiederholt.

 

Die Aufmerksamkeit gilt dem wirtschaftlichen Aspekt – den amerikanischen Hochzöllen.

Wirtschaftlich haben wir in Westeuropa enorm davon profitiert, dass im Zuge der der Nachweltkriegsordnung, vor allem auch nach den Liberalisierungsinitiativen der 80er Jahre, die Märkte immer offener wurden. Gerade die Schweiz erwirtschaftet ihren Wohlstand im Ausland. Die durchschnittlichen Zölle für Industrieprodukte in den OECD-Ländern lagen zwischen 2 und 4%, je nach Berechnungsart. Verglichen mit Wechselkursschwankungen und anderen Dingen war das vernachlässigbar. Damit ist es jetzt auf absehbare Zeit, jedenfalls bei dem bedeutenden Markt USA, vorbei.

 

Keine Hoffnung auf baldige Abkehr von Trumps Hochzollkurs?

Selbst wenn eine post-Trump Administration 2029 oder 2033 es anders sehen sollte –  was keineswegs sicher ist – wird es politisch schwierig werden, die Dinge auf den Status quo ante zurückzuführen. Das liegt nicht zuletzt daran, dass Zölle jetzt nennenswerte Einnahmen für die Staatskasse generieren, die angesichts des Verzichts auf Unternehmens- und andere Steuern und einem besorgniserregenden Verschuldungsgrad dringend notwendig sind. Aus diesem Grund ist davon auszugehen, dass es beim Abschied der USA von der Niedrigzollpolitik bleiben wird.   Westeuropa wird auf Sicht mit hohen US-Zöllen konfrontiert sein. Ob es bei den 39 Prozent für die Schweiz oder 15 % für die EU bleibt, kann seriös nicht vorhergesagt werden. Wir wissen, dass der aktuelle Bewohner des Weissen Hauses sich weder zu Hause noch gegenüber fremden Mächten an Regeln und Zusagen hält.

 

Was lässt sich tun?

Zum einen: man sollte versuchen, mit dem Rest der Welt stabile Beziehungen einzurichten und bestehende privilegierte Beziehungen pflegen. Soweit die USA betroffen sind: Die Schweiz ist für die USA handelspolitisch weitgehend irrelevant, unbeschadet des Umstandes, dass schweizerische Unternehmen zu den grösseren Investoren zählen. Deswegen kann an der Schweiz ein Exempel statuiert werden, als Warnung für andere. Wenn es nur um die Handelspolitik ginge, könnte die EU durchaus Paroli bieten. Aber Westeuropa möchte den nuklearen Schutzschirm, den Zugang zu Waffensystemen und Geheimdienstinformationen behalten, weil es aktuell autonom nur mit Mühe verteidigungsfähig ist. Das sollte jetzt so schnell wie möglich geändert werden. «Ganz schnell» hat in der EU die Geschwindigkeit eines Gletschers: Es wird mindestens 5 – 10 Jahre brauchen,  bevor die EU Mitgliedstaaten imstande sind, auf die militärische Unterstützung Amerikas zu verzichten.

Der Glaubenssatz, der uns jahrzehntelang eingepaukt wurde, heisst: «Freihandel ist gut, Handelshemmnisse sind schlecht». Wieviel bleibt von der Idee eines global gültigen Weltwirtschaftssystems übrig? Wird die Welthandelsorganisation WTO überleben?

Es ist zu früh, um darauf abschließend Antwort geben zu können. Ein Szenario, das man sich vorstellen könnte und das auch in Brüssel und anderswo diskutiert wird, ist der Versuch, die WTO zu retten, minus die USA, eventuell minus China. Dieses Modell wird jetzt erschwert, weil die Divide-et-Impera-Strategie der Vereinigten Staaten dazu führt, dass sich alle auf Deals mit den USA einlassen, um nicht von der grossen Trump-Keule erfasst zu werden. Die Zugeständnisse, welche die EU den Amerikanern zugesagt hat, sollen anscheinend anderen nicht gegeben werden sollen, wie man jetzt hört. Das wäre, jedenfalls auf den ersten Blick, ein Verstoss gegen den Grundsatz der Meistbegünstigung, demzufolge kein Handelspartner schlechter behandelt werden darf als jeder andere WTO-Partner. Für sich genommen ist das wahrscheinlich nicht das Ende des WTO-Regimes, weil alle in der gleichen schrecklichen Situation sind, aber es ist nicht gut.

 

Man hält sich weniger an Grundsätze und Regeln?

Die WTO-Regeln werden weiterhin von den meisten Staaten meistens beachtet. Aber Not kennt kein Gebot, wie das Sprichwort sagt. Hinzu kommt, dass die EU immer noch meint, ihre Werte und Prinzipien auch mittels ihrer Handelspolitik nach Aussen projizieren zu sollen: im Umweltbereich, etwa dem CO2-Grenzausgleich, der Entwaldungsverordnung, der Batterieverordnung und anderen Regelungen, geht die EU schon sehr offensiv auf die Handelspartner zu, die durchaus schlüssige WTO-rechtliche Bedenken anmelden. Es verdient allerdings festgehalten zu werden, dass die EU nicht nur plausibel darlegen kann, ihre Regeln seien noch WTO-konform, sondern auch bisher immer ihr Recht angepasst hat, wenn die WTO-Streitbeilegungsorgane der Ansicht waren, dass die EU-Massnahmen gegen WTO-Recht verstossen. Die EU ist mit der Schweiz und mehreren anderen Staaten eine wichtige Unterstützerin des multilateralen Handelssystems: es gilt zu retten, was zu retten ist.

 

Ist China da mit dabei?

China macht, wenn es darauf ankommt, was es will. Aber formal sind sie Verfechter des multilateralen Handelssystems. Bei der Schaffung eines Ersatzkonstrukts für die Appellationsinstanz, den Appellate Body, in der WTO ist China dabei.

 

Liesse sich bei der WTO gegen die USA klagen?

Rechtlich wäre eine Klage zulässig und aller Wahrscheinlichkeit nach auch erfolgreich. Erreichen würde man nichts, weil die USA Berufung an den von ihnen beseitigten Appellate Body einlegen würden, und damit die Angelegenheit nach der bisherigen Praxis nicht zu einem Abschluss kommen würde.

 

Sollte die Schweiz, die sich gerne als Champion des multilateralen Systems und der «regelbasierten Ordnung» gebärdet, klagen ?

Politisch würde eine solche Massnahme die Schweiz weiter exponieren. Die Brasilianer werden mit einem Zoll von 50% belegt, weil sie einen ehemaligen Staatspräsidenten wegen seines mutmasslichen Putschversuchs anklagen. Was würden die Folgen sein, wenn man gegen die USA Beschwerde einlegt? Niemand kennt die Antwort, und der Bundesrat muss die möglichen Folgen in seiner Evaluierung der Opportunität einer solchen Massnahme berücksichtigen. Anders lägen die Dinge nur, wenn man früh eine «Einheitsfront» geschaffen hätte.

Gibt es Anstrengungen, eine solche «Einheitsfront» zu schaffen?

Davon weiss ich nichts. Ich halte es für unwahrscheinlich. Die Amerikaner sind gut informiert. Wer als Initiator auftritt, exponiert sich.

Sie erwähnen die Schaffung eines Ersatzmechanismus für die Appellationsinstanz bei der WTO. Worum geht es da, und funktioniert es?

Es geht um das Multi-Party Interim Appeal Arbitration Arrangement (MPIA). Es wurde geschaffen, weil die USA die bestehende Appellationsinstanz durch die Blockade von Wahlen neuer Mitglieder zur leeren Hülle hat werden lassen. Die Schweiz, die EU, China, Japan, Kanada und andere Staaten sind MPIA-Vertragsparteien. Gemeinsam vereinigen sie etwa zwei Drittel des Welthandels auf sich. Aber das MPIA ist ein Ersatz und wird als Ersatz wahrgenommen: Das Verfahren wird viel weniger in Anspruch genommen als das beim originalen «Appellate Body» vorher der Fall war.

 

In den USA hat der Präsident auf eigene Faust, ohne Zutun des Kongresses, über die Zölle entschieden. Könnten der Kongress oder die Gerichte ihn hindern?

Nach Art. I der amerikanischen Verfassung hat der Kongress im Hinblick auf Aussenhandel und Zölle die ausschliessliche Kompetenz. Der Kongress könnte also dem aktuellen Spuk jederzeit ein Ende bereiten. Aber im aktuellen Kongress hat die Partei des Präsidenten in beiden Kammern eine knappe Mehrheit, welche Trump-Agenda umsetzen will, koste es was es wolle, und dabei die eigene Gestaltungsmöglichkeit hintanstellt.

 

Und die Gerichte?

Für bestimmte Ausnahmesituationen – etwa politische Notlagen, militärische Bedrohung und so fort – hat der Kongress in verschiedenen Gesetzen Kompetenzen bezüglich Zölle und Aussenwirtschaftsrecht an den Präsidenten delegiert. Auf diese Gesetze stützt sich die Trump-Administration. Obwohl es nicht einleuchtet, dass der engste Partner der USA, Kanada, und die europäischen NATO-Partner der USA als Ursprung einer politischen Notlage oder militärische Bedrohung sein könne, sind die Gerichte ausserordentlich zurückhaltend, in die Einschätzungsprärogative der Exekutive einzugreifen. Allerdings hat es Gerichte gegeben, die zur Überraschung vieler zu dem Ergebnis kamen, dass Trump seine Kompetenzen überschritten habe. Aber an der Spitze der Pyramide haben wir einen Obersten Gerichtshof, der mittlerweile aus der Sicht dieses gerichtserprobten Präsidenten verlässlich besetzt ist.

 

Welche Reaktionsmöglichkeiten bieten sich einem Schweizer Exportunternehmen? Wir haben viele kleinere Unternehmungen, die exportieren. Ihre Optionen sind wohl nicht dieselben wie die der Pharmakonzerne.

Wenn dieser Betrieb wirklich klein ist, wird er das Amerikageschäft für den Moment vergessen müssen. Sofern der Betrieb keine Spezialität anbietet, die nicht zu ersetzen ist, werden bei einem Aufschlag von 39 % die Aufträge komplett wegfallen. Das zwingt dazu, nach Möglichkeit anderswo Abnehmer zu finden, und gegebenenfalls Kosten zu reduzieren. Dass dies Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt haben wird, ist naheliegend. Bundesbern hat rasch politisch reagiert, und die Verlängerung des Kurzarbeitergeldes in Aussicht gestellt.

Viele der USA-Exporteure mögen zwar KMUs sein, gehören aber zu den hidden champions der Schweiz – Exporteure, die gerne als «klein» wahrgenommen werden, die aber in Wirklichkeit grosse Unternehmungen auf ihrem Gebiet sind. Diese haben zumeist Fertigungsstätten in Deutschland oder in einem osteuropäischen EU-Staat. Sie werden ihre für die USA bestimmten Waren nach Möglichkeit in ihren dortigen Werken herstellen und haben das vielfach bereits getan, damit sie statt der 39 Prozent US-Zoll auf Schweizer Waren die 15 Prozent auf EU-Waren nutzen. Das ist auch nicht ideal für den Werkplatz Schweiz, aber besser als das Geschäft völlig zu verlieren.

 

Die Rede ist viel von der Pharmabranche, auf die der Grossteil der Schweizer Exporte in die USA entfällt.

Pharma ist ein besonderes Geschäft. Die dortigen Akteure sind sehr unterschiedlich aufgestellt. Schon jetzt haben einige von ihnen grosse Produktionskapazitäten in den USA, und man hört, dass dort bis zu 100% des Bedarfs des amerikanischen Marktes abgedeckt werden kann.

Zugleich sind Medikamente speziell. Wenn amerikanische Patienten bestimmte Medikamente nicht mehr erhalten können, kann dies innenpolitisch Unmut auslösen. Richtig ist, dass die Preise für Medikamente in den USA –  generell für Heilbehandlungen – unglaublich hoch sind. Das hat jedoch innenpolitische und nicht handelspolitische Gründe.

 

Alles in allem schlechte Aussichten, nicht?

Wenn sich innerhalb der nächsten Zeit nicht alles ändert, und doch noch ein Kaninchen aus dem Hut gezaubert werden kann, wird das Ganze nicht ohne schmerzliche Einschnitte abgehen.

 

Was halten Sie von Zusagen, wie sie die EU gemacht hat, Milliardeninvestitionen in den USA und Millardenkäufe amerikanischer Energie und amerikanischer Waffen? Ist das möglich? Ist es verlässlich?

Sie sprechen zwei verschiedene Dinge an, zum einen die Zusage, staatlicherseits bestimmte Dinge abzunehmen, und zum andern Investitionszusagen. Soweit die EU-Mitgliedsstaaten bereit sind, von den USA beispielsweise mehr Munition zu kaufen, können sie sich da binden. Dass Europa aufrüsten muss, ist klar, die Amerikaner haben bestimmte Waffen, die in Europa nicht hergestellt werden, insofern macht das Sinn. Wenn man dadurch erreicht, dass das Abwürgen der europäischen Wirtschaft sich weniger schlimm auswirkt, sei’s drum.

Hinsichtlich der Investitionen liegen nach meiner Kenntnis keine bindenden Zusagen vor: das sind Verlautbarungen, im besten Fall die Verpflichtung sich zu bemühen, die eigenen Unternehmen zu motivieren.

Bei der Schweiz ist es genauso. Am F-35 soll festgehalten werden, und bei den letzten Verhandlungen in Washington soll auch der CEO der Swiss teilgenommen haben; man prüft offenbar, Boeings statt Airbus zu kaufen.

 

Wie fest sind solche Zusagen?

«Fest» im rechtlichen Sinner: nein. Die Zusage von Investitionen hat aus hiesiger Perspektive übrigens mit dem Freihandelsabkommen Schweiz – Indien angefangen. Frau Budliger und ihr Team hatten die Idee, dass man etwas anbieten solle, was sonst noch keiner angeboten hatte. Selbstverständlich kann die Schweiz nicht rechtlich bindend zusagen, dass ihre Unternehmen investieren werden. Wenn es aber nicht klappt, können die Inder dann die Vertragsbeziehung beenden. Offenbar hat das SECO Anlass zur Annahme, dass diese politische Zusage Wirklichkeit wird.

Die EU hat den Amerikanern, wenn ich das richtig sehe, deutlich gemacht, dass sie nichts zusagen können, sondern dass sie das auch nur als best effort politisch versprechen. Man hört, dass dies bereits zu Spannungen führt. In jedem Fall sind solche Zusagen von grosser politischer Bedeutung, und sowohl die EU als auch die Schweiz werden sich intensiv darum bemühen, dass sie eingelöst werden können, nicht zuletzt deshalb, weil die Reaktion andernfalls einschneidend sein könnte.

 

Was ist der Stellenwert der neuen bilateralen Verträge mit der EU, über die wir abstimmen werden? Können diese Verträge etwas an der Zollsituation mit den USA verbessern?

Was die Behandlung durch die USA angeht, würde es auf den ersten Blick nichts ändern. Wir würden ja keine Zollunion mit der EU begründen, und deswegen würde nach wie vor ein unterschiedlicher Zoll für die EU und die Schweiz gelten.

 

Also kein Mehrwert in der misslichen Lage?

Die Bilateralen III sorgen dafür, dass das, was wir haben, bestehen bleibt, nämlich der privilegierte sektorielle Zugang zum europäischen Markt; der Preis ist eine weitgehende Anpassung des schweizerischen Wirtschaftsrechts an das Recht der EU. Das ist seit 20 Jahren erfolgreiche Praxis, aber ohne rechtliche Verbindlichkeit. Letzteres soll sich nun ändern. Was die bilateralen Verträge 3.0 herbeiführen werden, sollten sie denn zustande kommen, kann man als eine rechtliche Verfestigung des Status Quo, beschreiben. Nicht mehr und nicht weniger.

 

In der Praxis bleibt alles gleich?

Auch bisher sind die Schweizer Standards, mit ein paar Ausnahmen, gleichgeschaltet. Weltweit gesehen, ist der europäische Markt mit seinen 450 Millionen Konsumenten der Heimmarkt, wenn das Schweizer Unternehmen nach Asien exportiert, kann es darauf verweisen. Die Schweiz ist komplett im Geleitzug der Europäischen Union, aber sie hat Wert darauf gelegt, das nicht in rechtlich verbindlicher Weise zu tun. Mit den Bilateralen III würden wir nunmehr rechtlich gehalten sein, das zu tun, was wir bisher praktizieren. Zugleich hätten wir erstmals ein Mitgestaltungsmöglichkeit bei dem Recht, dem wir uns dann anpassen…

 

…die  «dynamische» Übernahme von neuen EU-Regeln …

Das war bisher bei den Marktzugangsabkommen nicht der Fall. Bei der der polizeilichen Zusammenarbeit haben wir seit den Nuller-Jahren ein ähnliches System, das sich aus schweizerischer Sicht bestens bewährt hat.

 

«Dynamisch» heisst «automatisch», nicht?

Wenn man keine politische Agenda verfolgt, mag man für den Alltagsgebrauch ruhig «automatisch» sagen. Aber es stimmt nicht wirklich: vielmehr muss ein Beschluss des Schweizer Gesetzgebers, beziehungsweise des Bundesrats, vorliegen: das ist keineswegs automatisch. Es geht also immer nur mit dem Stempel aus Bern. Zugleich hat die Schweiz auch die Rechtsakte mitgestaltet, denen sie sich anpassen wird,

 

Das sogenannte «decision shaping» gilt als zentrales Element der neuen Verträge – also die Mitsprache bei EU-Regelungen, bevor Entscheide getroffen werden. Gilt dies auch für die Handelspolitik?

Da ist die Antwort ganz einfach und klar: Nein. Die Schweiz hat grossen Wert darauf gelegt, dass die wichtigen Marktzugangsabkommen, sieht man von Strom und Lebensmittelsicherheit ab, nicht etwa in einem Vertragswerk aufgehen, sondern– wie eingangs gesagt – die Bilateralen von 1999 fortschreiben. Die bisherigen Anwendungsbereiche bleiben weitgehend unverändert. Da gibt es nichts, was Handelspolitik betrifft.

 

Die politische Rechte, welche die Verträge bekämpft, sagt, es sein ein Riesenfehler, wenn die Schweiz sich im Licht der amerikanischen Erpressung noch mehr an die EU binde. Sie müsse unabhängig bleiben und andere, neue Märkte suchen. Was halten Sie von diesem Argument?

Es ist völlig richtig, dass die Schweiz  als kleine, reiche Exportnation immer nach neuen Märkten Ausschau halten soll. Wir sollten in Indonesien präsent sein, wir sollten am Golf präsent sein, wir sollten in Südostasien präsent sein, wir sollten in Lateinamerika bestimmt noch mehr machen. Diese Aussagen sind komplett richtig – und zugleich Allgemeingut: alle wollen das, der Bundesrat ohnehin, und Unternehmen versuchen es natürlich. Das restliche Argument verstehe ich nicht: Es wird doch jetzt gerade der Tatbeweis erbracht, dass Verlässlichkeit, rechtliche Geordnetheit – und im Falle einer Meinungsverschiedenheit über die Tragweite des Vertrages eine unabhängige Streitbeilegung – wichtig und hilfreich sind.

 

Das Argument der Rechten lautet, die Schweiz büsse Souveränität ein.

In Zukunft wäre die Schweiz von Rechts wegen verpflichtet, Regeln zu übernehmen, die sie bisher schon de facto übernommen hat. Das kann man als formalen Verlust von Souveränität beschreiben, wobei natürlich der Vertrag nur geschlossen werden kann, weil die Schweiz souverän ist. Aus dem gleichen Grund kann sie auch den Vertrag mit einer Kündigungsfrist von 3 Monaten beenden.

Dieser formalen Einbusse an Souveränität stehen jedoch ein wesentlicher Gewinn gegenüber. Zum einen gestaltet die Schweiz ab Inkrafttreten der Bilateralen III die zu übernehmenden Rechtsakte mit. Zum anderen kann sie schiedsgerichtlich sicherstellen, dass sich ihr Partner rechtlich korrekt und verhältnismässig verhält.

Falls die Schweiz ihre Verpflichtungen nicht einhält und das Gleichgewicht von Geben und Nehmen gestört wird, kann die EU mit verhältnismässigen «Ausgleichsmassnahmen» reagieren. Diese sollen das vertraglich vereinbarte Gleichgewicht wieder herstellen. Ginge die EU darüber hinaus, würde auf Antrag der Schweiz das Schiedsgericht einschreiten.

 

Sie trauen der Schiedsgerichtsbarkeit?

Die EU hat alle möglichen Schwächen; sie überreguliert, sie ist zu wenig pragmatisch, manchmal dogmatisch und ihre Repräsentanten sind nicht immer frei von Arroganz. Aber im Hinblick auf die Einhaltung ihrer völkerrechtlichen Verpflichtungen hat sie tendenziell eine blütenreine Weste. Im Rahmen von Streitbeilegungsverfahren hat sich die EU bisher stets an Schiedssprüche gehalten oder ausnahmsweise kompensiert.

#Handel #Multilateralismus #Schweiz-EU #Souveränität

Michael Hahn

 

Der Jurist Prof. Dr. Michael Hahn ist Direktor des Instituts für Europa- und Wirtschaftsvölkerrecht und Direktor am World Trade Institute der Universität Bern.

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