Thomas Borer, 1996-1999 Leiter der Task Force Schweiz – Zweiter Weltkrieg, stellt aus seiner Sicht die Auseinandersetzungen dar, die sich damals um den Umgang mit nachrichtenlosen Konten von Holocaust-Opfern, problematische Verhaltensweisen zur Kriegszeit und letztlich um das Selbstbild der Schweiz entspannen. Die Handlungsfähigkeit des Landes erscheint in keinem günstigen Licht.
Es waren ungewohnte, überraschende «Angriffe», denen sich die Schweiz ab Mitte der 1990er Jahre ausgesetzt sah. Internationale jüdische Verbände und in den USA organisierte Kläger forderten von Banken, der Schweizerischen Nationalbank (SNB) und der Eidgenossenschaft Entschädigungen für zurückbehaltene Guthaben von Holocaust-Opfern und für den Kauf von nazideutschem Raubgold während des Kriegs. Die Vorwürfe steigerten sich zum Bild einer Schweiz, die vom Weltkrieg profitiert und ihn verlängert habe, und trafen das Land hart in seinem Selbstverständnis. Um die schweizerischen Interessen besser vertreten zu können, setzte der Bundesrat im Oktober 1996 eine Task Force ein und ernannte den 39jährigen Diplomaten Thomas Borer zu deren Chef. Dieser hat nun unter Verwendung von Aktennotizen die Krise und die Tätigkeit der Task Force in nicht weniger als fünf Bänden dargestellt und den Publizisten René Lüchinger dazu engagiert, eine rund 350seitige Kurzversion abzufassen. Letztere Publikation ist Gegenstand dieses Lesetipps.
Über die Streitigkeiten, die 1998/99 durch eine Globallösung mit Zahlung von 1,25 Milliarden Dollar durch die Grossbanken beigelegt wurden, haben einzelne Akteure und Historiker bereits früher Bücher verfasst, namentlich Thomas Maissen, dessen gründliches Werk «Verweigerte Erinnerung» (2005) speziell auf zahlreichen Gesprächen mit Beteiligten beruht. Die Publikation von Borer und Lüchinger verändert das Gesamtbild kaum, bietet aber besondere Einzelheiten sowie eine eigene Beurteilung der Geschehnisse, implizit oder in hervorgehobenen Zitaten aus Borers ausführlichem Text.
Es ist bekannt, dass es Borer nicht an Selbstbewusstsein fehlt – falsch handelten in seinen Augen andere. Seine Leistung sollte deswegen nicht herabgesetzt werden. Er baute in kurzer Zeit eine bis 30köpfige Einsatzgruppe auf, agierte in der Schweiz und den USA rasch, gut vorbereitet und intensiv, erkannte vor allem die Bedeutung der Öffentlichkeitsarbeit als Teil der Diplomatie, gerade in Amerika. Dabei mag er es mit kalkuliertem Pathos und Medientaktik ab und zu übertrieben haben. Der diskreter und konzilianter vorgehende Botschafter Alfred Defago wird simpel als Bremsklotz und Anpasser abqualifiziert.
Die Gegenseite verstand es tatsächlich gut, in der Öffentlichkeit eine Stimmung für ihre Sache zu schaffen. Nichtstaatliche Akteure wie der Jüdische Weltkongress (WJC) und die Vertreter der Sammelklagen erhielten politische Unterstützung von dem um seine Wiederwahl bangenden New Yorker Senator Alfonse D’Amato, von einzelnen Gliedstaaten, die mit Boykotten gegen Banken und andere Schweizer Unternehmen drohten, und auch von der Bundesregierung. Unterstaatssekretär Stuart Eizenstat trug später allerdings zur Beilegung des Konfliktes bei, weil Washington – aus heutiger Sicht nicht selbstverständlich – doch einiges Interesse an guten Beziehungen zur Schweiz sah. Die Vielzahl und auch Konkurrenz der handelnden Stellen wie auch das Nebeneinander oder die Vermischung von Wahrheiten und Unwahrheiten, moralischen Anliegen und handfesten Interessen, nicht zuletzt der Klägeranwälte, machten der Schweiz eine angemessene Reaktion schwierig, zumal sich Banken, SNB, Bundesrat, teilweise auch intern, oft uneinig waren.
In Bern und Zürich wurde wohl gehandelt, aber ohne kohärente Strategie. Die Banken bezahlten nach einer Vereinbarung mit internationalen jüdischen Organisationen das Komitee, das unter dem Vorsitz des früheren US-Notenbankchefs Paul Volker mit enormem Aufwand nach individuellen Bankguthaben suchte. Die von Jean-François Bergier präsidierte Expertenkommission unternahm aufgrund eines Parlamentsbeschlusses eine historische Aufarbeitung des schweizerischen Verhaltens zur Nazizeit, wofür sie Zugang zu den Akten privater Firmen erhielt. Der Bundesrat wollte für einen Entscheid über finanzielle und andere Leistungen die Resultate der Untersuchungen abwarten. Diese dauerten aber Jahre und ermittelten nur teilweise eine bezifferbare «Schuld». So drängte sich, auch nach Borers Meinung, eine sofortige humanitäre Geste auf. Der Fonds für Holocaust-Überlebende, den grosse Unternehmen und nach einigem Zögern die Nationalbank mit etwa 270 Millionen Franken ausstatteten, konnte indes im Februar 1997 die Eskalation der Vorwürfe und Forderungen nicht mehr verhindern, nachdem ein allzu offenherziges Interview von Bundespräsident Jean-Pascal Delamuraz und die Märtyrerrolle eines Wachmanns, der eine Aktenvernichtung entdeckt hatte, der gezielten Empörung neue Nahrung verliehen hatten.
Fast gleichzeitig lancierte der Bundesrat die Idee einer grossen Solidaritätsstiftung, die er wenige Tage nach einem Vorschlag von SNB-Präsident Hans Meyer mit einem Mehrheitsentscheid gutgeheissen hatte. Der vermeintliche Befreiungsschlag stiftete erhebliche Verwirrung, und Borer, der nicht einbezogen worden war, musste von Bundesrat Flavio Cotti durch Zureden vom Rücktritt abgehalten werden. Der Chef der Task Force nahm nun eine harte Position ein. Als die – vom Bundesrat alleingelassenen – Grossbanken aus Sorge um ihren Ruf auf einen umfassenden Vergleich mit Sammelklägern und WJC zusteuerten, ohne Borer einzubeziehen, hätte er es für besser gehalten, auf Zeit zu spielen, da der öffentliche Druck in den USA bereits am Abflauen gewesen sei. Längst ging es dabei nur noch um die Höhe der Pauschalzahlung. Die Anliegen «Wahrheit und Gerechtigkeit», die zu verfolgen auch Borer versprochen hatte, gerieten weit in den Hintergrund.
Wie ist die in vielem unwürdige Entwicklung der ganzen Angelegenheit zu erklären, was hätte vermieden werden können? Einen Rechenschaftsbericht der Task Force, der Lehren erlaubt hätte, wollte der Chef des EDA, Flavio Cotti, ausdrücklich nicht erstellen lassen. Borers politischer Vorgesetzter wird mit Kritik nicht verschont. Er sei ein «Zauderer» gewesen, legalistisch, ängstlich auf sein Image bedacht. Ein Bundesrat hatte allerdings stets auch die Innenpolitik im Blick zu behalten, was wiederum nicht einfach Rücksicht auf nationalistische Kräfte heissen müsste – Kaspar Villiger hatte 1995 mit der Entschuldigung für Teile der Flüchtlingspolitik einen anderen Schritt gewagt.
Borer empfiehlt als Abhilfe gegen die Trägheit des Kollegialsystems eine Stärkung des Bundespräsidentenamts durch eine Wahl auf vier Jahre und einen professionellen, je nach Situation zu ergänzenden Krisenstab. Eine längere Amtszeit und ein Frühwarnsystem können indes das nötige politische Gespür für neue Herausforderungen und Mut zu realistischen Sichtweisen nicht ersetzen.
In ihrem Buch zeichnen Borer und Lüchinger die Ereignisse nach, ohne auf die tieferen Ursachen einzugehen, weshalb die Schweiz so nervös reagierte (von einem Hühnerhaufen war die Rede). Hing ihre Verletzlichkeit nicht auch damit zusammen, dass sie aufs Ganze gesehen trotz periodischen kritischen Aufarbeitungen ihre Rolle während der Kriegszeit zu selbstbezogen, wenn nicht selbstgerecht eingeschätzt hatte? Und wurden nicht zugleich die amerikanischen Druckmethoden zu arglos eingeschätzt? Dann dürfte eine Lehre auch einfach lauten, dass eine introvertierte Politik das Land nicht gegen die «Aussen»welt abschirmen kann.
Thomas Borer, René Lüchinger: Die Schweiz gegen die Welt. Nazigold, nachrichtenlose Konten und das Krisenmanagement 1966-1999. NZZ Libro, Basel 2025. 366 S., Fr. 38.-.
(Thomas Borer: Die Task Force Schweiz – Zweiter Weltkrieg. 5 Bände. Books on Demand 2025.)
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