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Genf hat weh

Die USA ziehen ihrer Entwicklungshilfe den Stecker und Genf fällt die Decke auf den Kopf. Die weltumspannende Bekämpfung von Hunger, Not und Armut ist dort ein Geschäftszweig. Schon hat «Foreign Affairs», das Organ des aussenpolitischen Establishments in den USA, das  «Ende der globalen Hilfsindustrie» ausgerufen. Für «Genève Internationale» signalisiert das wirtschaftliche Einbussen und einen  drohenden Bedeutungsverlust. Bloomberg News, ebenfalls eine US-Publikation, hat vor einigen Wochen einen Blick von aussen auf die Lage gerichtet. Hier gekürzt und adaptiert in deutscher Übersetzung.

Ende Januar hat Donald Trump die zweite Amtszeit mit zwei Verwaltungsakten begonnen, die Genf, seit langem ein Epizentrum der globalen Gesundheitsmassnahmen, der Friedensschlüsse und der Diplomatie, direkt treffen. Der Präsident zog die USA aus der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zurück, die in ihrer jüngsten Zweijahresperiode 1,3 Milliarden Dollar von seiner Regierung erhalten hatte, und er terminierte die meisten Verträge der US-Entwicklungshilfebehörde USAID.

Der Kanton spürte diese Veränderungen unmittelbar. Die Stadt ist das Domizil von 38 internationalen Organisationen, die 29 000 Personen beschäftigen, jedes Jahr rund 7 Milliarden Dollar ausgeben und rund 400 Nichtregierungsorganisationen (NGOs) anziehen. Bis vor kurzem hat dieses Ökosystem generöse Hilfen der USA erhalten. Jetzt irrt die WHO hin und her, um andere Geber aufzutreiben, und die Genfer Regierung schlägt vor, im Nachgang zu den USAID-Kürzungen 11 Millionen Dollar für die Kompensation von NGO-Löhnen  zu verwenden.

Anstellungsstops und Entlassungen

Überall in der Stadt machen sich  andere Organisationen darauf gefasst, dass die Kürzungen bereits bestehende Budgetkrisen noch schlimmer werden lassen. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz hat einen Anstellungsstop ausgerufen, nachdem 2023 bereits 270 Stellen an seinem Schweizer Hauptquartier gestrichen wurden. Der UNO-Hochkommissar für Flüchtlinge sagt, dass mindestens 400 Jobs verschwinden werden. Die Internationale Migrationsorganisation entlässt nach einem noch nie dagewesenen Rückgang der Gebergelder von 30 Prozent über 250 Stellen. Viele der grössten multilateralen Agenturen in der Stadt haben Anstellungsstops oder Entlassungen vorgenommen oder stehen vor anderen organisatorischen Schwierigkeiten.

«Global» ist nicht mehr cool

Genfs Probleme haben nicht mit dem derzeitigen amerikanischen Präsidenten begonnen. Die globale Wende zum Isolationismus hat seit Jahren an Beschleunigung gewonnen, und die Abwendung der Schweiz von der strikten Neutralität – zentral für das Werbeargument des Landes als unparteiischer Schiedsrichter der Welt – setzte in den frühen 2000er Jahren ein. Aber angesichts von Trumps «America First» Agenda ist Genf nun in der unangenehmen Lage, eine liberale Ordnung zu repräsentieren, die sich nicht länger im Aufschwung befindet. «Die Idee der internationalen Zusammenarbeit, ein Globalist zu sein, war früher die coole Sache, aber in den meisten Ländern ist das nationale Interesse viel wichtiger geworden», sagt Joost Pauwelyn, ein Professor für internationales Handelsrecht am Graduate Institute in Geneva. “Für Genf ist das nicht gut».

Die Zeichen einer Wende sind im historischen Palais des Nations-Komplex der UNO überall zu bemerken. Um Elektrizität zu sparen, sind dort die Raumtemperaturen auf 26 Grad Celsius im Sommer und 20,5 Grad im Winter eingestellt, und an Wochenenden und um die Personalkosten zu senken, bleibt der Komplex an Feiertagen geschlossen. Die Massnahmen ergingen im April 2024, weil 51 der 193 Mitgliedsstaaten ihre Mitgliederbeiträge für 2023 nicht voll bezahlt hatten, wie  Tatiana Valovaya, die UNO-Generaldirektorin in Genf, sagt. Ein Jahr später hat sich der finanzielle Druck intensiviert. Laut UNO-Daten stieg die Zahl der säumigen Mitgliedsstaaten bis März auf 121. Unter ihnen sind die USA und China, die im vergangenen Jahr gemeinsam 1,14 Milliarden Dollar schuldeten. «Der Hauptgrund für diese Liquiditätskrise ist, dass Mitgliedsstaaten nicht voll und zur Zeit zahlen, und das ist teilweise so, weil der Fokus auf dem Eigeninteresse liegt», sagt Maya Ungar, eine UNO-Expertin der International Crisis Group in New York.

Herr Trumps Fragebogen

Ein weiteres Indiz, wie die Trump-Regierung ihre Verpflichtungen überprüft, ist ein Fragebogen aus dem Weissen Haus für US-finanzierte internationale Agenturen und NGOs in Genf. Wer weitere Finanzhilfe beantragt, muss bestätigen, dass es «nicht ein Klima- oder ‘Umweltgerechtigkeits’-Projekt» betrifft, und muss Fragen beantworten, ob seine Arbeit «die Souveränität der USA stärkt, indem sie den Verlass auf internationale Organisationen oder internationale global Gouvernanzstrukturen (z.B. UNO, WHO) zurückbindet».

 

Über Jahrzehnte hat der Multilateralismus der Schweiz mit der langen Bekenntnis des Landes zur Neutralität koexistiert, manchmal unter Schwierigkeiten. Das endete in den frühen 2000er Jahren, als die Schweiz der UNO und dem Internationalen Strafgerichtshof  ICC beitrat (Anmerkung der SGA-Redaktion: Die Vereinigten Staaten sind dem ICC nie, auch nicht unter demokratischen Regierungen, beigetreten). . Die Pflicht, das humanitäre Völkerrecht zu beachten, war kein Thema, als Joe Biden 2021 in Genf mit dem russischen Präsidenten Vladimir Putin zusammentraf, um die Beziehungen zwischen den beiden Supermächten neu aufzugleisen. Kein Jahr später wäre ein solches Treffen unmöglich gewesen. Mit Russlands Invasion in der Ukraine bedeutete die ICC-Mitgliedschaft der Schweiz, dass Putin seine persönliche Freiheit riskierte, wenn er seinen Fuss in das Land setzte. Das Gericht hatte ihn wegen seiner Politik der Zwangsdeportation ukrainischer Kinder nach Russland zur Verhaftung ausgeschrieben. Der israelische Premierminister Benjamin Netanyahu geriet in dieselbe Lage, nachdem das Gericht ihn wegen seiner Kriegführung gegen Hamas angeklagt hatte.

Jetzt werden hochrangige Verhandlungen, die früher in Genf stattgefunden hätten, zunehmend anderswo abgehalten. Im Februar setzten sich der US-Aussenminister Marco Rubio und der russische Aussenminister Sergei Lavrov in Riyadh zum ersten hochrangigen Treffen zwischen den beiden Ländern in fast drei Jahren zusammen. Im März reiste der ukrainische Präsident Volodomyr Zelensky für Waffenstillstandsgespräche in die saudische Hauptstadt, und später im Jahr werden dort Trump und Putin erwartet. Anfang Jahr wurde eine brüchige Friedensvereinbarung zwischen Israel und Hamas in Qatar vermittelt.

Der Oelhandel klagt

Der schweizerische Entscheid im Jahr 2022, die Sanktionen der Europäischen Union gegen Russland zu übernehmen, hat auch den Rohwarenhandel, einen Schlüsselsektor der Stadt, getroffen. Laut der Lobby-Gruppe SuisseNegoce liefen vor den Sanktionen drei Viertel aller russischen Rohölexporte über Genf. Jetzt werden die meisten Geschäfte im Sanktions-freien Dubai gemacht, dass laut dem Dubai Multi Commodities Centre etwa 22 000 Händler beherbergt – gemäss einem Bericht  eine Zunahme um ein Drittel. Litasco, die Handelsabteilung der russischen Lukoil PJSC, hat mehrere Angestgellte in Schlüsselpositionen aus dem Genfer Büro nach Dubai abgezogen.

Noch ist die Stadt der Sitz der Giganten Gunvor, Trafigura, Mercuria und Vitol, deren Rekordgewinne in den letzten Jahren das Steueraufkommen des Kantons anschwellen liess. Aber der geographische Fussabdruck der Industrie sei im Wandel, sagte die Generalsekretärin von SuisseNegoce,   Florence Schurch. Vor den Sanktionen habe eine Handelsgesellschaft für jeden Angestellten in Dubai deren vier in Genf gehabt. Für einige von ihnen sei es jetzt umgekehrt.

In den multinationalen Organisationen wird nicht erwartet, dass das Internationale Genf verschwinden wird, sondern, dass das Machtgefüge sich verschiebt, indem autoritäre Staaten die Lücke füllen, welche die USA hinterlassen. China ist bereits dabei, eine grössere Rolle in den internationalen Institutionen zu beanspruchen. Nachdem es in der vergangenen Dekade Diplomaten in Spitzenjobs bei der WHO und der Internationalen Telekommunikationsunion plaziert hat, ist das Land nun daran, eine kommende Generation mutilateraler Führerfiguren auszubilden, wie eine Studie vor kurzem feststellte. Ein Element dieser Strategie besteht darin, sich mehr Internship-Stellen im UNO-System zu sichern.

#Multilateralismus #Schweizer Aussenpolitik

Espresso Diplomatique

Kurz und Kräftig. Die wöchentliche Dosis Aussenpolitik von foraus, der SGA und Caritas. Heute steht der neu entbrannte Grenzkonflikt zwischen Thailand und Kambodscha im Fokus. Ende Mai eskalierten die jahrzehntelang anhaltenden Spannungen, weshalb die Nachbarländer seither Druck aufeinander ausüben. Nr. 482 | 15.07.2025

Eine Aussenpolitik für die 
Schweiz im 21. Jahrhundert

Neue Beiträge von Joëlle Kuntz (La neutralité, le monument aux Suisses jamais morts) und Markus Mugglin (Schweiz – Europäische Union: Eine Chronologie der Verhandlungen) sowie von Martin Dahinden und Peter Hug (Sicherheitspolitik der Schweiz neu denken - aber wie?) Livre (F), Book (E), Buch (D)    

Zu den Beiträgen

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Das Schweizer Mandat im UNO-Sicherheitsrat (2023 und 2024) fiel in turbulente Zeiten, der Rat hatte Schwierigkeiten, in den grossen Fragen Entscheide zu fällen. Jeden Samstag haben wir das Ratsgeschehen und die Haltung der Schweiz zusammengefasst.

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