Lesetipp

Gegen den Sog der EU

Der Historiker Oliver Zimmer hebt beim Entscheid der Schweiz über das EU-Vertragspaket die grundsätzliche Weichenstellung hervor. In einer Sammlung von Texten legt er seine Ansicht dar, dass eine Zustimmung an die demokratische Substanz des Landes ginge und zu einem Beitritt zur Union führen müsste.

Für die partielle Beteiligung der Schweiz am europäischen Binnenmarkt verlangt die EU mehr Verbindlichkeit. Die entsprechenden Vertragsregelungen werden von Gegnern gleich zum Ende der Unabhängigkeit stilisiert, im vorgezogenen Abstimmungskampf greift die SVP im doppelten Sinn zur Hellebarde. Oliver Zimmer, von 2005 bis 2021 Geschichtsprofessor in Oxford und seither Forschungsleiter am privaten Institut «Crema», engagiert sich demgegenüber publizistisch-intellektuell und argumentiert vor allem staatstheoretisch gegen die Einfügung in einen Supranationalismus, der allzu rasch als Fortschritt gelte. In einer Publikation, die zehn Beiträge, darunter einen grösseren neuen enthält, bündelt er seine Kritik.

Superstaat versus Demokratie

Zimmers Stellungnahme gründet in seinem Bild einer Union, die «näher beim aufgeklärten Absolutismus als bei der modernen Demokratie» liege. Als Treiber der Entwicklung, deren Ziel ein europäischer Bundesstaat sei, stellt er die Kommission und den Europäischen Gerichtshof (EuGH) ins Zentrum – und übergeht Rat und Parlament als die rechtsetzenden Organe kurzerhand. Das Wirken der «Regulierungsmaschine» sei nicht wirtschaftlich motiviert, sondern durch das Streben nach europäischer zulasten nationaler Staatlichkeit und damit zulasten der Demokratie. Diese gilt für ihn als Grundlage persönlicher Freiheit, während etwa der liberale Zug des Binnenmarkts, speziell die Personenfreizügigkeit als Bürgerrecht, kein Thema ist.

So abschreckend Zimmers Darstellung der europäischen Integration erscheint, so idyllisch die des schweizerischen Wegs. So bezeichnet er die «Kommunen» als «Bausteine des modernen Staates», ohne auf die Rolle der Kantone oder auf den gewaltsamen Schritt zur Eidgenossenschaft von 1848 einzugehen. Als die treibenden Gestaltungskräfte sieht er «die Bürger im harten Dialog mit ihren demokratisch gewählten Vertretern» – Verwaltung, Lobbymacht und Druck zur Anpassung an das massgebende Umfeld haben in diesem Idealbild kaum Platz. An sich bedenkenswert ist der Hinweis auf Zusammenhänge zwischen Mitbestimmung, Miliztätigkeit, allgemeinem Vertrauen und wirtschaftlichem Erfolg. Unklar bleibt, ob Zimmer demokratische Entscheide absolut setzen will. Den Charakter der EU als Rechtsgemeinschaft schätzt er jedenfalls gering ein, da für den EuGH das Recht hauptsächlich ein Instrument der Integrationspolitik sei.

Druck zum Beitritt

Aus dem Kontrast zwischen der EU und der Schweiz ergeben sich Zimmers Hauptargumente gegen das zur Diskussion stehende Vertragspaket. Der Titel der Schrift, «Brüssel einfach?» ist zweifach zu verstehen. Zum einen hätten sich die Vertreter der Schweiz ganz an die Logik der EU angepasst, wie sich besonders in der vereinbarten dynamischen Übernahme neuen europäischen Rechts zeige. Die Demokratie des Landes komme dadurch «unter die Räder». Bezeichnend sei die Rolle des EuGH, der bei Streitigkeiten selbst im Bereich einer Ausnahme von der Anpassungspflicht massgebend wäre. Diese Absurdität leitet der Autor aus einem ungeschickt ins Deutsche übersetzten Vertragspassus ab, der auf Französisch und Englisch Ausnahmen selbstverständlich Ausnahmen bleiben lässt.

Zum andern hält Zimmer institutionell ergänzte Binnenmarktabkommen (trotz Kündigungsmöglichkeit) für kaum mehr reversibel. Vielmehr würde eine «Pfadabhängigkeit» geschaffen, also eine Bahn gelegt, die zur Mitgliedschaft in der Union führen würde. Tatsächlich, ist einzuräumen, lassen die neuen Vertragselemente die strukturelle Asymmetrie der Beziehungen deutlicher hervortreten als die Bilateralen I in der bisherigen Form. Im Zusammenhang mit ihnen hat die Schweiz ohne grosse Diskussionen zahlreiche Rechtsakte der EU übernommen. Dadurch hat sie einen gewissen Zwang zur Anpassung an spätere Neuerungen geschaffen, ihn aber im Bewusstsein gerne verdrängt. Auch wenn es sich oft um technische Fragen handelt, die politisch keine Wellen werfen, ist es nicht ganz falsch, bei der Formalisierung dieses Verhältnisses (oder bei diesem selbst) von einem «Teil-Beitritt ohne Stimmrecht» zu reden. Dass die Schweiz dadurch «bereits mittelfristig» in die EU getrieben würde, ist indessen eine gewagte Prognose. Man mag unter anderem auf das Beispiel des Europäischen Wirtschaftsraums verweisen, wo ein mit der Schweiz grob vergleichbarer Staat wie Norwegen auch nach drei Jahrzehnten noch Mitglied ist, obwohl seine institutionelle Position dort weniger günstig ist als die der Schweiz in den Bilateralen III.

Kein Determinismus

Mehrfach setzt sich Oliver Zimmer auch auf einer geschichtsphilosophischen Ebene mit der europäischen Integration auseinander. Skeptisch betrachtet er Vorstellungen, wonach es gelte, auf einen «Fortschrittszug» aufzuspringen, wonach (nur) rationale, am Reissbrett ausgeheckte politische Gebilde als «modern» gelten könnten und wonach der Supra- oder Postnationalismus ohne Alternative sei. Von einer schweizerischen «Sehnsucht nach Welt» sprach Max Frisch schon 1946. Zimmer gibt zu bedenken, dass ein von vorneherein negativer Blick auf den «Sonderfall» ebenso ideologieverdächtig sei wie ein verklärender.

Der Historiker Herbert Lüthy schrieb 1961 in seinem Essay «Die Schweiz als Antithese»: «Wenn die Welt nach der grossen Einheit strebt, wie wir gern glauben wollen, so strebt sie nicht minder mit all ihren lebendigen Kräften nach der Freiheit und Selbstbestimmung all ihrer Gemeinschaften, auch der kleinsten – und diese beiden Ideale sind nicht notwendigerweise unvereinbar.» Zimmer zitiert diesen Satz, ohne sein eigenes Entweder – Oder zu relativieren. Die Schweiz sucht stets einen europapolitischen Mittelweg und kann sich jetzt für etwas mehr äusserliche Unabhängigkeit oder für etwas mehr Einbindung und offene Perspektiven entscheiden. Das Zweite muss nicht bedeuten, an einen Determinismus zu glauben – schon deshalb nicht, weil der globale Trend gegenwärtig in eine andere Richtung als zu Räumen und Netzen des Rechts hin läuft.

 

#Schweiz-EU

Oliver Zimmer: Brüssel einfach? 10 Essays zum Verhältnis Schweiz – EU. Books on Demand, Hamburg 2025. 146 S., ca. Fr. 22.-.

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