Lesetipp

Frau Papagei ist Unternehmerin

Johannes Kunz, ehemaliger Botschafter der Eidgenossenschaft in Côte d’ Ivoire, Burkina Faso, Guinea, Niger und Kamerun, ist das schwarze Schaf der Schweizer Diplomatie. Ein erbitterter Kritiker der pensée unique in der “westlichen” Auffassung von internationaler Politik, insbesondere den Doktrinen der staatlichen Entwicklungshilfe, hat er sich politisch bei der Schweizerischen Volkspartei eingereiht, die zum Fluchtpunkt all dessen geworden ist, was sechzig Jahre zuvor “Anti-Establishment” geheissen hat. Seit seiner Pensionierung schreibt Kunz Bücher, vornehmlich über Afrika, welche hohen Sachverstand über und grosse Empathie für den schwarzen Kontinent mit wuchtigen Breitseiten gegen Doppelspiele früherer Kolonialmächte oder Blauäugigkeiten heutiger Entwicklungstechnokraten verbinden. Seine Prosa trieft von Verachtung der “Heerscharen von staatlich entlöhnten Entwicklungshelfern, die, vollgestopft mit Universitätswissen, ideologisch untermauerte Theorien über die Armut entwickeln, der sie mit geschäftigen Geländefahrten in bequemen SUVs in einer Art Ganzjahres-Abenteuer-Tourismus zu Leibe zu rücken denken”.

Das Zitat stammt aus der ersten Seite von Kunzens neuem Buch “Mama Perroquet”. So heisst die Frau aus Burkina Faso, die der Autor als “Studienobjekt” wählte, um herauszufinden, wieweit es möglich sei, einer unternehmerischen Person durch gezielte, auf keinen Fall staatliche Hilfe zu ermöglichen, sich im “informellen Sektor” aus Armut zu befreien und wirtschaftlich auf eigenen Füssen zu stehen. Ungewöhnlich daran ist zunächst, dass “Mama” mit dem Autoren verheiratet ist – ein Umstand, der im Buch ebenso wenig deutlich gemacht wird wie “Mamas” voller Name. Kunz lernte sie während seiner Botschafterzeit in Abidjan kennen, war von ihrem Überlebenswillen und ihrer Geschäftstüchtigkeit beeindruckt und half, ihren Traum von einem eigenen Geschäft zu realisieren. Dabei sollte “klar sein, dass ich von meiner Investition innert nützlicher Frist eine Rendite erwartete”. Wieweit dies der Fall war, belegt der Text nicht. Aber der Traum wurde realisiert. In Bobo-Dioulasso, der zweitgrössten Stadt Burkina Fasos, etablierte “Mama” das Lokal “Maquis le Perroquet”, zweistöckig, mit DJ, populär. Mit den Gewinnen kaufte sie eine Liegenschaft. In ihrem Heimatdorf Koho eröffnete sie eine zweite Bar. Nach sieben Jahren wurden die Segel gestrichen. Die Miete für “Perroquet” wurde nicht verlängert, weil das Quartier sich über Lärm beschwerte, das Etablissement in Koho scheiterte an Unfähigkeit und Gier (“kalkulierte Liederlichkeit”) der angestellten Familienmitglieder. “Mama” zog zu Johannes Kunz nach New York, wo geheiratet wurde (Offenlegung: ich war Trauzeuge). Heute lebt das Ehepaar in der Schweiz und in Burkina Faso. “Mama” betreibt Handel zwischen beiden Ländern, Johannes Kunz ist als Mitglied der Grossfamilie “Bestandteil dieses Landes geworden”.

Ein toleranter Islam in der Defensive gegen «religiös gefärbten Terror»

Sein Buch lässt sich auf zwei Arten lesen. Die eine ist die Geschichte der tüchtigen “Mama”, die sich aus der Abgeschlossenheit des Dorfes Koho zu lösen vermochte, ins Nachbarland nach Abidjan auswanderte, dort im “ständigen Kampf um die Mittel für Nahrung, Wohnungsmiete” tief unten durchmusste und dank dem “Investoren” Kunz eine andere Existenz aufbaute. Entlang der Geschichte von “Mama” gibt das Buch Einblicke in eine komplexe westafrikanische Gesellschaft, in das Neben- Mit- und Durcheinander von über 60 Volks- und Sprachgruppen, Muslimen, Christen und “Animisten”, in den Stellenwert von Mobiltelefon und Internet und die durchaus reale Bedeutung der Hexerei (“Ich musste mich der Erkenntnis fügen, dass in Afrika Dinge geschehen, die es anderswo nicht gibt”). “Mama” ist Muslimin, aber der Islam, den sie lebt, ist von “Pazifismus”, “Toleranz” und “Neutralität” geprägt. Kunz beschreibt aus der eigenen Erfahrung, wie sich der andere, radikale Islam von Norden her im Dorf Koho ausbreitet. Das traditionelle Triezen zwischen den Bevölkerungsgruppen, die rivalité de plaisanterie ist der “weitverbreiteten Angst” vor dem “religiös gefärbten Terror” gewichen, mit dem ausgreifenden Konflikt im Sahel ist ein sorgfältig austariertes soziales Gleichgewicht am Ende: “Mamas Welt gerät aus den Fugen”.

Versagen der «westlichen Diplomatie»

Auf die andere Lesart ist “Mama Perroquet” eine Art Lehrbuch zu Burkina Faso, gespickt mit Informationen und Darstellungen, die weit über lexikalische Grundration des Wikipedia-Artikels hinausreichen. Kunz beschreibt die politische und ökonomische Geschichte des Landes und seine Verstrickung in die Sahel-Konflikte. Dabei macht er der französischen Quasi-Kolonialmacht und der «westlichen Diplomatie», auch der schweizerischen, schwere Vorwürfe, weil sie den Kampf gegen den terroristischen Salafismus zu wenig ernst genommen und zu spät unterstützt habe. Er notiert die für den afrikanischen Kontinent typische Jugend des Landes (44 Prozent der Bevölkerung Burkina Fasos sind unter 14 Jahre alt), die er als grossen Zukunftsvorteil beschreibt, und er beschreibt die verheerende Wirkung der salafistischen Politik, welche die Jungen bewusst von der Schulbildung fernhält. Kunz verweist auch auf die Entdeckung grosser Goldvorkommen vor zwanzig Jahren, die Burkina Faso “die Aufmerksamkeit ausländischer Regierungen, Firmen und Terrorgruppen” eintrug und den Handel umkrempelte. Drei Viertel der Exporte des Landes entfallen mittlerweile auf Gold, und die Schweiz ist die wichtigste Abnehmerin. Kunz reiht sich unter die Skeptiker solcher Entwicklungen. Er warnt vor einer “neuen Form des Kolonialismus… der unter dem moralischen und moralisierenden Anspruch, die Welt vor einer Klimakatastrophe retten zu wollen, am Ursprung eines Ansturms auf die für moderne Batterien unerlässlichen Seltenen Erden steht”. Im Allgemeinen – sehr allgemeinen – hält Kunz dem “Westen” Doppelbödigkeit vor, und vor allem auch Versagen im Kampf gegen den islamistischen Terror, der zu spät ernst genommen und den einheimischen Widerstand zuwenig entschlossen unterstütze. Die Schweiz wird dabei nicht ausgenommen. Die “westliche Diplomatie” dränge die Putschisten (“Übergangsregierungen”) in Mali, Niger und Burkina Faso dazu, «sich allenfalls auch mit Terroristen und Mördern… an den Verhandlungstisch zu setzen». Verallgemeinert: “Für die USA und die EU ist nach heutiger Praxis selbst ein korrupter Staat unterstützungswürdig, solange er, wie auch immer, regelmässig Wahlen durchführt, die formale Gewaltentrennung praktiziert und sich auf eine Verfassung stützt, die nicht selten wortreich demokratische Wert beschwört”. Kunz verlangt – im Einklang mit zahlreichen afrikanischen Stimmen – mehr Respekt für afrikanische “Souveränität” und mehr Rücksicht auf regionale Besonderheiten – zum Beispiel das Desinteresse bei “fast allen Afrikanern und “allen Muslimen” an der “Genderdebatte”.

Was kluge Politik in der Sahelfrage wäre, oder wie die Schweiz – Burkina Faso gilt als “Schwerpunktland” – sich verhalten könnte, wird in “Mama Perroquet” nicht thematisiert. Der Autor beschränkt sich auf das pauschale Nein zur “Armut der westlichen Afrika-Diplomatie”, ein vages Vertrauen in den derzeitigen Burkina-Faso-Machthaber Traoré und die noch vagere Hoffnung auf “Kapitalismus im souveränen Staat”. Letzteres entspricht der rechten Lehre seiner politischen Heimat. Sie ist das Prokrustesbett, in welches der Autor seine afrikanischen Erfahrungen zu zwingen versucht. Thomas Sankara, der 1987 ermordete Burkina-Faso-Diktator gerät ihm zu einer Art afrikanischem SVPler, volksverbunden, patriotisch, der “Antiimperialismus” zum Beharren auf der “Souveränität” umgemünzt. Gelegentlich kommt das Leben der rechten Doktrin in die Quere. Die Unterstützung für “Mama” – nichts sonderlich anderes als traditionelle Entwicklungshilfe – wird zwar als Feldversuch in Sachen informeller Marktwirtschaft formatiert, aber das Geschäftsgebaren ist alles andere als die schneidige Anwendung liberaler Axiome. “Mama” kann ihre Bar eröffnen, weil der Bürgermeister un frère vom gleichen Clan war. Sie gewinnt Kundschaft, weil sie bei jeder Bestellung eine Kiste Bier mitgibt und “unter dem möglichen Gewinnmaximum” operiert. Überhaupt steht die Hochachtung der afrikanischen Frauen, im Widerspruch zum Hohn gegen die “Genderdebatte”: Ohne etwas Genderei ist der machismo nicht wegzukriegen. Am deutlichsten wird der Gegensatz zwischen erlebter Wirklichkeit in Afrika und rechtsgerichteter Ideologie in der Deutschschweiz, wenn es um Wanderungen, Einwanderungen und Durchmischungen geht. Autor Kunz beschreibt in differenzierter Weise das “ethnische und sprachliche Durcheinander” in seiner Region, wo “Neuzugezogene meistens Land zu annehmbaren Bedingungen” finden konnten, und sie und die “Autochthonen” sich “irgendwie verständigen” konnten. Das ist nicht gerade, was die Schwarze-Schafe-Plakate der Volkspartei signalisieren.

 

#Globaler Süden

Das Buch

Mama Perroquet. LIT-Verlag, Wien, 2024. 172 Seiten. 39.90 Euro (kein Preis in Franken angegeben). Vom selben Autor im selben Verlag: Die Eidechsen des Amadou, 2006.

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