Kolumne

Ethik vor Ökonomie

Ein kleines europäisches Land liefert ein Beispiel für eine mutige, das heisst ethisch begründete Aussenpolitik ohne Rücksicht auf ökonomische Interessen. Es handelt sich dabei nicht um die Schweiz.

Würde die schweizerische Aussenpolitik den Vorgaben von Art. 54 der Bundesverfassung folgen, wäre sie in hohem Mass ethisch ausgerichtet: „Der Bund … trägt namentlich bei zur Linderung von Not und Armut in der Welt, zur Achtung der Menschenrechte und zur Förderung der Demokratie …“. Natürlich ist die reale schweizerische Aussenpolitik nicht frei von diesen Zielsetzungen und Aktivitäten: Wir leisten humanitäre Hilfe und sind, wenn auch abnehmend, aktiv in der Entwicklungszusammenarbeit, aber oft überwiegen im Verkehr mit anderen Staaten die ökonomischen Interessen. Aussenwirtschaftspolitik kommt in der Regel vor Aussenpolitik. Die Beziehungen zu China liefern ein anschauliches Beispiel: Zwischen dem Freihandelsabkommen und dem Menschenrechtsdialog existiert ein enormes Bedeutungsgefälle.

Nun gibt es ein anderes, noch kleineres europäisches Land, das die Prioritäten umgekehrt setzte. Ein Land, das unilaterale Tapferkeit mit weltumspannender Solidarität verbinden will. Es eröffnete in Taiwans Hauptstadt Taipeh ein Repräsentationsbüro im Wissen darum, dass das die Volksrepublik China als Provokation empfinden und darauf sehr ungnädig reagieren würde. Das kleine Land wollte aber nicht dem wirtschaftlichen Giganten gefallen, sondern sich solidarisch zeigen mit dem anderen Teil Chinas, dem demokratischen, rechtstaatlichen. Peking wies umgehend den Botschafter des kleinen Landes aus und zog den seinen aus diesem ab. Es unterband den bilateralen Handel und setzte jene europäischen Staaten unter Druck, die mit dem kleinen Land wirtschaftlich verkehrten: Wenn Ihr weiter mit uns geschäften wollt, müsst Ihr das kleine Land aus Euren Lieferketten eliminieren. Das kleine Land wiederum gab noch einen drauf: Es verbot seiner Drohnenindustrie, chinesische Komponenten zu verbauen.

Das kleine Land knickte also nicht ein. Die Regierung stellte dem Privatsektor 130 Millionen Euro bereit, um die drohenden Handelsverluste abzufedern. Die damals noch demokratischen USA dotierten einen Exportrisikofonds mit 600 Mio Dollar. Taiwan stellte 200 Mio Dollar für einen High-Tech-Investitionsfonds und weitere Kredite von einer Milliarde Dollar zur Verfügung. Die EU richtete eine Beschwerde an China und leitete ein Verfahren bei der WTO ein. Eine Woche später kapitulierte China und hob das Handelsembargo auf.

Warum so mutig?

Das kleine Land heisst Litauen. Es zählt nicht einmal halb so viele Einwohnerinnen und Einwohner wie die Schweiz, seine Wirtschaftskraft ist im Verhältnis noch weit geringer. Dennoch hat es den Hosenlupf mit China gewagt, und man fragt sich, warum? Der Grund liegt in Geschichte und Gegenwart des Landes. Es war während Jahrhunderten weder unabhängig noch frei, sondern besetzt – entweder vom russischen Zarenreich, von Nazi-Deutschland oder von der Sowjetunion. Und kaum frei und unabhängig fühlt es sich als Nachbarland bedroht vom neuen russischen Imperialismus. Die historischen Erfahrungen haben Litauen widerständig gemacht gegen diktatorische Grossmächte. Sensibler als andere sieht es auch das Erpressungspotenzial, das in wirtschaftlicher Abhängigkeit schlummert. Und deutlich hat es erkannt, dass seine Überlebenschancen mit der Zugehörigkeit zu internationalen Gemeinschaften wie der EU und der NATO deutlich grösser sind als es ein Alleingang wäre (wobei seit dem Machtwechsel in den USA das Vertrauen in den militärischen Schutzschirm natürlich gelitten hat).

Vor allem aber fühlt sich Litauen solidarisch mit Taiwan, weil es in dessen Situation Parallelen zu der eigenen sieht. Beide stehen einem grossen, aggressiven Nachbarn mit unverhohlenen Territorialansprüchen gegenüber. Beide fürchten um ihre Selbständigkeit als unabhängige, demokratische Rechtstaaten. Beide haben gute Gründe, das anzunehmen. Und deshalb haben beide das Bedürfnis, sich beizustehen. Darum hat Litauen seine wirtschaftlichen Interessen einer ethisch motivierten Aussenpolitik untergeordnet. Es hat diese Prioritätensetzung im Konflikt mit China umsichtig eingebettet in bilaterale und multilaterale Allianzen und so den potenziellen ökonomischen Schaden limitiert, den es bewusst in Kauf nahm. Es liefert ein eindrückliches Beispiel für eine mutige Aussenpolitik, die ihre Kraft aus der ethischen Überlegenheit bezieht. Man fragt sich nur, warum dieses Beispiel so wenig bekannt ist.

Eine ausführliche Version dieser Geschichte findet sich in dem äusserst lesenswerten Buch von Oliver Moody: Konfliktzone Ostsee. Die Zukunft Europas. Stuttgart 2025.

#Handel #Schweizer Aussenpolitik

Das Buch

Oliver Moody: Konfliktzone Ostsee. Die Zukunft Europas. (Englisches Original: Baltic. The Future of Europe.) Klett Cotta Verlag, Stuttgart 2025. 528 Seiten. Fr. 39.90

Espresso Diplomatique

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