François Wisard zeichnet eine kurze, aber dramatische Diplomatenkarriere nach: Harald Feller hat in Ungarn 1944/45 etlichen Menschen lebenswichtigen Schutz verschafft. Nach Moskau verschleppt, wurde er erst im Rahmen eines asymmetrischen Austauschs wieder freigelassen. In Bern waren inzwischen verschiedenste Vorwürfe untersucht worden.
Von der Tätigkeit der Schweizer Gesandtschaft in Budapest während des Zweiten Weltkriegs ist vor allem das Engagement von Carl Lutz bekannt. Der Leiter der Abteilung Fremde Interessen (Schutzmachtmandate) bewahrte als formeller Vertreter Grossbritanniens viele tausend Juden vor der Deportation, indem er ihnen mit Blick auf eine Ausreise nach Palästina Schutzbriefe ausstellte und für sie verhandelte. Harald Feller (1913-2003) bewies in anderen Funktionen in der Gesandtschaft seinerseits Mut und Humanität. Während er 1945/46 in Moskau gefangen war, kam es in der Schweiz indessen zu allerlei Spekulationen, in die sich auch persönliche Vorwürfe mischten. François Wisard, langjähriger Leiter des historischen Dienstes im EDA, hat diesem ungewöhnlichen Diplomaten und der damaligen Extremsituation in Ungarn nun eine Darstellung gewidmet, in der er minutiös die belegbaren Fakten herausarbeitet.
Der Weg zum «Gerechten unter den Völkern» – wie zuvor Lutz erhielt er 1999 die Auszeichnung von Yad Vashem – war für den Sohn des Berner Historikers Richard Feller nicht vorgezeichnet. Der Mann mit «Künstlerseele» studierte unter elterlichem Druck Jus; er arbeitete im Rechtsdienst des Politischen Departements (EPD; heute EDA), hatte wegen eines Doppelbesteuerungsabkommens mit Ungarn zu tun und wurde 1943 als Legationssekretär in Budapest angestellt. Nach dem Putsch der faschistischen Pfeilkreuzler rief Bern seinen Gesandten zurück, und nachdem aus gesundheitlichen Gründen auch dessen Stellvertreter seinen Posten verlassen hatte, wurde Feller am 10. Dezember 1944, im Alter von 31 Jahren, unvermittelt Leiter der Vertretung. Diese sollte besetzt bleiben, obwohl die Umstände gefährlich waren und die Schweiz weder das Szalasi-Regime anerkannte noch diplomatische Beziehungen zur militärisch heranrückenden Sowjetunion hatte.
Bereits unter Miklos Horthy, besonders nach der deutschen Besetzung des Landes im April 1944, wurden Juden in Ungarn massenhaft zu Zwangsarbeit und in Vernichtungslager deportiert. Juden aus neutralen Staaten mussten in diese zurückkehren. Feller hatte, noch als Unterstellter des Gesandten, für etwa ein Dutzend Personen die Repatriierung zu organisieren. Einbezogen wurden auch mehrere Frauen, die nach damaligem Recht durch die Ehe mit Ungarn ihr Schweizer Bürgerrecht verloren hatten, dieses aber unter bestimmten Bedingungen wieder erlangen konnten. Sie waren besonders auf Hilfe angewiesen. Bemühungen um Visa und Transport gehörten wohl zur Pflicht des Beamten; Feller engagierte sich aber speziell. Im Weiteren arbeitete er im Auftrag des EPD dafür, dass bis zu 1000 Kinder für eine Spitalbehandlung in die Schweiz verbracht werden könnten, was schliesslich für ganze 44 Kinder gelang.
Nicht im Sinn der Zentrale in Bern war die Gewährung von «Asyl» in den Räumen der Gesandtschaft. Lutz liess seine Büros, in denen viele Juden Schutz suchten, zweimal polizeilich räumen. Feller beherbergte in seiner Wohnung vom Juni 1944 an heimlich den jüdischen Schriftsteller und Übersetzer Gabor Devecseri, später weitere Personen. Nachdem ein Pfeilkreuzler-Trupp an Heiligabend die schwedische Vertretung überfallen hatte, versteckte er den Gesandten und drei Mitarbeiter, die dem Angriff entgangen waren, im grossen Luftschutzkeller des Palais, in das ein Teil der schweizerischen Gesandtschaft verlegt worden war. Zudem stellte er ihnen Schweizer Pässe aus. Auch anderen Personen verschaffte er auf diese Weise Schutz, nicht zuletzt einer Ungarin, die er später heiratete. Bis zu 50 Menschen fanden in dem Gebäude Zuflucht, weitere in einem zusätzlichen Versteck.
Während Budapest bereits unter sowjetischem Beschuss war, begab sich Feller täglich zu seinen Mitarbeitern am alten Standort der Gesandtschaft. Am 29. Dezember nahmen ihn unterwegs Pfeilkreuzler fest, misshandelten ihn schwer und drohten ihm mit dem Tod. Nur mit einer List und Glück kam er frei. Als er den Vorfall im ungarischen Aussenministerium meldete, knüpfte er engeren Kontakt mit zwei Mitarbeitern und erreichte so polizeilichen Schutz und Zugang zu Lebensmitteln. Wiederholt lud er die beiden Pfeilkreuzler zum Essen in das Palais ein. Diese kalkulierte Beziehungspflege war, kurz vor dem sowjetischen Einmarsch, gewiss riskant, aber Feller und seine Schützlinge blieben unbehelligt.
Mitte Februar 1945, wenige Wochen nach der Einnahme Budapests durch die Rote Armee, wurden Feller und der Kanzleibeamte Max Meier von sowjetischen Agenten entführt und fast ein Jahr in Moskau festgehalten. Um die Rückkehr dieser und weiterer Vertreter zu erreichen, musste die Schweiz sechs sowjetische Internierte, die strafrechtlich verurteilt waren, freilassen sowie einen angeblichen Verräter und einen Deserteur ausliefern – der eine kam für zehn Jahr8e in Lagerhaft, der andere wurde hingerichtet. Bern stand nicht nur wegen der gefangenen Landsleute und Staatsdiener unter Druck, sondern auch weil es die (1944 gescheiterte) Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit Moskau nicht gefährden wollte.
Der neue EPD-Chef Max Petitpierre hatte den Berner Oberrichter Jakob Kehrli bald nach Fellers und Meiers Entführung beauftragt, deren Umstände und mögliche Gründe zu untersuchen. Das lag mit Blick auf die Bemühungen um Freilassung nahe. Kehrli kam zum Schluss, dass Moskau die beiden Schweizer wohl verschleppt hatte, um von ihnen Informationen zu erhalten. Erst im Jahr 2000 erfuhr man aus Schweden, wo man das Verschwinden des Diplomaten Raoul Wallenberg aufzuklären versuchte, dass tatsächlich Offiziere der Spionageabwehr gehandelt hatten.
In der Untersuchung hatten allerdings Fragen um Fellers Verhalten, auch solche, die Moskau wenig interessiert haben dürften, einiges Gewicht bekommen. Gegenüber Kehrli brachten Angehörige der Gesandtschaft namentlich die Kontakte mit Pfeilkreuzlern zur Sprache. Zudem gaben sie über Feller recht gemischte Urteile ab. Zu den Vorwürfen gehörten Alkoholismus, Morphin-Abhängigkeit und Homosexualität. Auch Carl Lutz verbreitete diese Anschwärzungen, während er die Unterstellung von Nazi-Sympathien – ein Angriff in einzelnen Presseartikeln – als absurd bezeichnete. In der Sache warf er Feller mangelnde Vorsicht sowie Nachgiebigkeit bei der Schutzgewährung vor. Ohne Auslanderfahrung mit der Leitung der Gesandtschaft betraut, sei er der Lage eben nicht gewachsen gewesen, schrieb Lutz in einem (von Wisard nicht zitierten) Brief an die EPD-Spitze, die seiner Meinung nach damals das ganze Personal hätte abziehen müssen.
Die Abklärungen erhärteten die meisten persönlichen Vorwürfe nicht; es blieb ein übermässiger Alkoholkonsum, namentlich bei nächtlichen Gelagen. Nach Anhörung des zurückgekehrten Feller kritisierte Kehrli auch dessen berufliches Verhalten nicht – mit Ausnahme der pflichtwidrigen Vergabe von Pässen –, lobte vielmehr, dass er wahrscheinlich 32 Menschen das Leben gerettet habe. Der «Freispruch» ist für François Wisard entscheidend. Mit Qualifikationen und Deutungen hält er sich eher zurück. Kehrli registrierte indessen Charakterisierungen Fellers als leutselig, geistvoll, morgens unpünktlich, sehr tapfer, nervös oder begabt, aber «verrückt» – Adjektive, die trotz Subjektivität den Menschen lebendiger, den Helden interessanter machen.
Harald Feller erhielt einen neuen Posten in Ankara, aber 1949, als eine Disziplinaruntersuchung drohte, verliess er den diplomatischen Dienst. Er wurde Berner Staatsanwalt und pflegte daneben und danach bis ins hohe Alter ein Talent, das ihm laut dem Lutz-Biografen Theo Tschuy auch in der Diplomatie geholfen hatte: das Schauspiel. Unter anderem war er Regisseur einer Theatergruppe von Inhaftierten – und schmuggelte Liebesbriefe durch die Mauern des Thorbergs.
François Wisard: Harald Feller. Retter von Verfolgten, Gefangener von Stalin. Das Leben eines Schweizer Diplomaten in Budapest. Elfundzehn, Ziegelbrücke 2025. 245 S., ca. Fr. 30.-.
Original: Enlevé à Budapest, prisonnier à Moscou, jugé à Berne. Les vies du diplomate Harald Feller, Juste parmi les nations. Alphil, Neuchâtel, 2025. 216 S., Fr. 29.-.
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