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Die Gretchenfrage der deutschen Sozialdemokraten

Wie lange hält die Grosse Koalition in Deutschland ? Die Frage mag überraschen, immerhin besteht die neue Regierung erst seit dem 6. Mai dieses Jahres. Dennoch ist sie legitim, denn die vergangenen Monate wurden von Vorfällen geprägt, die alles andere als blosse Anekdoten sind. Nachdem der Bundestag erstmals in der Geschichte der BRD erst im zweiten Wahlgang einen Kanzler gewählt hatte, kamen mehrere Unstimmigkeiten zwischen Christlich- und Sozialdemokraten zutage. Weit tiefer als von den Schwarzmalern vorhergesagt, offenbaren sie die Fragilität einer Regierungsmannschaft, die ihre Einheit mit Kabinettsklausuren und ähnlichen Zusammenkünften demonstrativ zelebriert. So war der erzwungene Rückzug der SPD-Kandidatin als Verfassungsrichterin kein Zufall. Sie hatte sich in einem Gutachten für die Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs entschieden, der nach geltender deutscher Rechtslage ein Delikt ist, und damit bei den Christdemokraten einen Aufschrei ausgelöst. Mit ihrer Protesthaltung hat die CDU/CSU an ihren klerikalen Traditionalismus angeknüpft und die Präferenz für einen Konservatismus signalisiert, von dem sie sich gelöst zu haben schien. Vor einigen Jahren ausgetrieben, kommt er nun im Galopp zurück, was bestätigt, was man schon weiss : Die CDU von Merz steht weiter rechts als jene von Merkel.

Die Ausnahme wurde zur Regel

Die Affäre, verschweisst mit der schweren, nachhaltigen Wahlniederlage der Sozialdemokraten, die ihren Spitzenkandidaten auswechseln müssen, wird ihre Spuren hinterlassen. Sie ist Vorläuferin eines Kulturkampfs zwischen zwei Partnern, die sich nicht mögen, aber gezwungen sind, zusammenzubleiben. Als Resultat der Wahl vom 23. Februar hat die Grosse Koalition kein Mandat einer grossen Mehrheit der Wählerschaft. Sie wurde faute de mieux gebildet, um das Schlimmste zu verhindern, die fünfte Grosse Koalition in der BRD. Ihre einzige Legitimität ist die Absage an die Extreme, namentlich die AFD, und darüber hinaus die Aufrechterhaltung eines politischen Systems, das durch Kompromisse gezwungen, am Ende seiner Logik angelangt zu sein scheint. Nach dem Sturz der christdemokratisch-liberalen Koalition von Ludwig Erhard kam im Jahre 1969 erstmals eine neuartige Regierung zwischen CDU/CSU und SPD zustande, welche das demokratische Wechselspiel zwischen den Christlichen und den Sozialdemokraten sicherstellte. Obschon vom sehr umstrittenen Kurt-Georg Kiesinger geführt, konnte dieser sich auf erstrangige Persönlichkeiten wie Aussenminister Willy Brandt und Finanzminister Franz-Josef Strauss verlassen. Dennoch blieb das Arrangement eine Ausnahme von der Regel. Nach dem Machtantritt von Angela Merkel 2005 wurde die Ausnahme zur Regel. Seither stand Deutschland zwölf Jahre unter dem Regime einer Grossen Koalition. Alles lässt darauf schliessen – und hoffen -, dass jene von Merz die letzte sein wird.

AFD ante portas

Warum ? Weil ihre Zeit abgelaufen ist. Selbst, wenn es heute im Bundestag keine Mehrheit für einen Wechsel gibt, mit Ausnahme der einen, welche die extreme Rechte zum Mitregieren des Landes einlädt. Zurzeit steht die Alternative für Deutschland nicht vor dem Tor zur Macht. Aber sie nähert sich in gefährlicher Weise. Sämtliche Parteien verweigern sich ihr weiterhin, und keine denkt im Moment daran, mit ihr zusammenzugehen. Damit es so bleibt, setzen die CDU/CSU und die SPD auf den Erfolg ihrer Koalition. Die Erfolgsprognosen sind allerdings spärlich. Zu erinnern ist an die Abstimmung vom 31. Januar 2025, drei Wochen nach der Wahl, als die Abgeordneten der Konservativen und die Freunde von Alice Weidel gemeinsame Sache hinter einem Anti-Einwanderungstext gemacht hatten. Und nach den kommenden Landtagswahlen wird darauf zu achten sein, wie in Sachsen-Anhalt und etwas später in Mecklenburg-Vorpommern mangels glaubwürdiger Alternativen Regierungen gebildet werden. Schliesslich sind im Lichte des Anti-Abtreibungs-Kreuzzugs dieses Sommers Kampagnen mit reaktionärem Akzent zu erwarten, auf welche die deutsche Linke reagieren wird.

Ideologische Auseinandersetzungen

Es ist alles da, um aus der Grossen Koalition von Merz den Schauplatz ideologischer Auseinandersetzungen zu machen. Während die Christdemokraten versuchen, die Wähler der AFD zurückzugewinnen, gerät die SPD zwischen Hammer und Amboss, will heissen in den Zwiespalt zwischen Regierungstreue und der Notwendigkeit, an vergangene Erfolge anzuknüpfen. In der Wahl vom Februar erreichte sie 16,40 Prozent Stimmenanteil, das schlechteste Ergebnis ihrer Geschichte seit 1949. Sie ist nurmehr ein Schatten ihrer selbst, und der Parteitag Ende Juni in Berlin hat ihre internen Konflikte offengelegt. Ko-Präsident Lars Klingbeil, Vizekanzler und Finanzminister, herausgefordert durch die populäre Arbeitsministerin Bärbel Bas, wurde von den Delegierten abgestraft. Zahlreiche unter ihnen, und nicht die untersten Chargen, äusserten Nostalgie für die pro-russische Politik ihrer Vorgänger. Und was bedeuten die jämmerlichen Resultate der Sozialdemokraten bei den Kommunalwahlen in ihrer einstigen Bastion Nordrhein-Westfalen Ende September 2025 ? Zudem ist die deutsche Linke so zerstritten wie nie. Die Grünen liebäugeln mit der Hoffnung auf eine Rückkehr zur Macht mit den Liberalen der FDP und einer etwas weniger konservativen CDU, die Kommunisten von Die Linke dank einer Erneuerung, welche die einen inspiriert und die andern zum Zittern bringt, auf das Schachbrett der Macht zurückgekehrt sind.

Die Qual der Wahl der Sozialdemokraten

Politisch steht Deutschland an einem Kreuzweg, der zur harten Rechten führen könnte. Es ist kein Luftschloss mehr, dass die ADF vor dem Ende des Jahrzehnts auf Ministerbänken Platz nehmen wird. Das berühmte deutsche Politikmodell ist in der Krise, und seine Stabilität schwankt in Abhängigkeit von Allianzen, die entstehen und wieder aufgelöst werden. Paradoxerweise sind es die Sozialdemokraten, die sich eine Klatsche nach der anderen vom Gesicht wischen, welche die Schlüssel eines erlahmenden Systems in der Hand halten. Um es am Leben zu erhalten, können sie nurmehr die zweite Geige in einer Grossen Koalition spielen. Das geht auf Kosten ihrer Identität und ihres Überlebens. Zum Risiko gezwungen, können sie der christdemokratischen Offensive, gleichzeitig konservativ und liberal, nicht nachgeben. Ihr einziger Rettungsanker ist das Kräfteverhältnis zwischen dem Schwachen und dem Starken, auf die Gefahr hin, dem Götzen des Konsensus ein Ende zu bereiten, der mehr als je von der Wende nach rechts in der deutschen Politik bedroht ist. Früher oder später wird die SPD sich ihrer Existenzfrage stellen müssen, also über den Verbleib oder den Rückzug aus der Grossen Koalition zu entscheiden haben, die laut Umfragen bereits nach sechs Monaten keine Mehrheit in der Bevölkerung mehr hat. Anders gesagt, haben die Sozialdemokraten die Qual der Wahl : Die Regierung verlassen, um sich selber zu retten, oder in der Regierung bleiben, um eine Allianz – still oder offen –  zwischen CDU-CSU und AFD zu verhindern.

Französischer Originaltext

 

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