Die Schuman-Erklärung vom 9. Mai 1950 stand am Ursprung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) und des folgenden Prozesses der europäischen Integration. In einem Vortrag bei der Fondation Jean Monnet in Lausanne hat SGA-Vorstandsmitglied Gilbert Casasus auf jenen historischen Aufbruch zurückgeblickt. Dabei verschwieg er weder die damaligen Spannungen noch die Grenzen des «funktionalistischen» Ansatzes zur Einigung angesichts der heutigen Herausforderungen.
Fünf Jahre und einen Tag nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs brachte der französische Aussennminister Robert Schuman den Vorschlag in seine Regierung und an die Öffentlichkeit, die Kohle- und Stahlindustrie Deutschlands, Frankreichs und weiterer Staaten einer gemeinsamen Behörde zu unterstellen. Die Idee dahinter: «L’Europe . . . se fera par des réalisations concrètes créant d’abord une solidarité de fait.» Die Initiative und der Textentwurf stammten von Jean Monnet, der an sich für die Wirtschaftsplanung zuständig war. Die Fondation Jean Monnet pour l’Europe in Dorigny bei Lausanne, die den Nachlass des Europapioniers bewahrt, hat zusammen mit der SGA den 75 Jahre zurückliegenden Akt an einer Veranstaltung an ihrem Sitz gewürdigt. Wie Gilles Grin, Direktor der Stiftung, in Erinnerung rief, hatte Schuman am gleichen Tag die Zustimmung des Ministerrats eingeholt, den deutschen Kanzler Konrad Adenauer informiert und dessen öffentliche positive Reaktion erhalten. Die EU hat 1985 den 9. Mai zu ihrem Europatag erklärt.
Gilbert Casasus, emeritierter Professor für Europastudien an der Universität Freiburg und Mitglied des SGA-Vorstands, zeichnete ein differenziertes Bild von den Anfängen der europäischen Integration. Als deren Ausgangspunkt werden je nach Blickwinkel verschiedene Daten genannt. Churchills Zürcher Rede von 1946 sei allerdings, bemerkte der Politologe, keine europäische, sondern eine sehr britische Rede über Europa gewesen und gerade in der Schweiz mit Begeisterung aufgenommen worden, weil man sich wie Grossbritannien nicht betroffen gefühlt habe. Der am 5. Mai 1949 gegründete Europarat habe sich nie eine langfristige politische Perspektive gegeben, und bei der Schaffung der NATO spielten die USA die führende Rolle. Der beginnende Kalte Krieg war indessen – neben der Erfahrung der Weltkriege – wohl entscheidend für den Ansatz von Schuman und dessen Erfolg. Ohne die Teilung Deutschlands, gab Casasus zu bedenken, wäre es möglicherweise nicht dazu gekommen. Das Projekt der Gemeinschaft war denn auch lange nur ein westeuropäisches.
Zu den sechs Mitgliedern der 1951 gegründeten EGKS oder Montanunion gehörte neben den Staaten in der Region der Schwerindustrie (Frankreich, Deutschland und die Benelux-Länder) auch Italien. Adenauer hatte nach Casasus darauf gedrängt, dass Deutschland nicht der einzige besiegte Staat der Gemeinschaft sei. Zudem lag ihm viel an der Verbindung zum Christlichdemokraten Alcide De Gasperi, zumal die Kommunisten im Aufstieg waren. Überhaupt prägten politische Katholiken das Unterfangen: neben den beiden Genannten und Schuman auch Joseph Bech (Luxemburg) und Joseph Pholien (Belgien). Das stimulierte wiederum oppositionelle Kräfte der Linken. Der SPD-Chef Kurt Schumacher bezeichnete die EGKS als konservativ und klerikal, kapitalistisch und kartellistisch. Gleichzeitig gehörten zu den engagierten Europapolitikern einzelne Sozialdemokraten, Sozialisten oder Kommunisten. Solche linken Kräfte vermehrt einzubeziehen wäre, wie Casasus hervorhob, für die Legitimität des Integrationsprojekts umso wichtiger gewesen, als namentlich Paul-Henri Spaak, Hendrik Brugman, Altiero Spinelli und André Philip des Kriegs im Exil oder im Widerstand gewesen waren – im Unterschied zu den «Mitläufern» Adenauer, De Gasperi und auch Schuman, der 1940 für die Vollmachten Pétains gestimmt hatte.
Der Aufbau Europas verlief auch weiter nicht nur in Harmonie. Casasus wies auf die französischen und die italienischen Wahlen von 1951 bzw. 1953 hin, aus denen die proeuropäischen Kräfte geschwächt hervorgingen. Die starke Stellung der deutschen CDU (45 Prozent 1953) war eine Ausnahme. Zudem waren die Motive für die Integration verschieden: Kontrolle über Deutschlands Schwerindustrie auf der einen, Zugehörigkeit zu Westeuropa («Westbindung») auf der anderen Seite. Misstrauen gegen Deutschland bestimmte sodann die Diskussionen um eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft, und zwar bei Befürwortern wie Gegnern. Dass die Kriege auf dem europäischen Kontinent nicht vergessen werden dürfen, ist für Casasus eine der Lehren aus jenem Projekt, das 1954 auch wegen eines unsensiblen Vorgehens von Adenauer gescheitert sei. Nichtsdestoweniger kam es im gleichen Jahr zum Vertrag von Paris, der die Schaffung der Bundeswehr erlaubte.
Auf dem Weg zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft von 1957/58 spielte Jean Monnet nochmals eine strategische Rolle, indem er in Hintergrundarbeit gemässigte Linke für das Integrationsvorhaben gewann. Dass politische Gräben überwunden werden müssen, dass Europa in seiner Pluralität aufgebaut wird, dass es ein Europa der Kompromisse ist, ergibt sich für Casasus als zweite Lehre. Als dritte Lektion bezeichnete er die Einsicht, dass die funktionalistische Konzeption der Gründerväter ausgedient habe. Nun gehe es um ein politisches Projekt, um politische Souveränität, neue Strukturen – es brauche neue Gründer.
In der Diskussion skizzierte Gilbert Casasus einzelne Reformwege konkreter. So sprach er sich für die Möglichkeit aus, dass eine Pioniergruppe von Mitgliedstaaten vorangehen kann. Ein Mangel der EU-Verträge sei es, dass ein Mitglied nicht ausgeschlossen werden kann. Impulse könnten auch von Volksabstimmungen ausgehen; diese müssten aber auf europäischer Ebene stattfinden, wobei ein Staaten-Mehr erforderlich wäre. Was die leitenden Werte betrifft, so verwies er auf die Basis von «liberté, egalité, fraternité (solidarité)» und plädierte für das Prinzip der Aufklärung im Kampf gegen politischen Obskurantismus.
Was heisst dies alles für die Schweiz? SGA-Vizepräsident Rudolf Wyder hatte in seiner Begrüssung Bundesrat Max Petitpierre zitiert, der 1952 in einer Rede auf die Gründung der Montanunion einging. Der damalige Aussenminister erkannte das Potenzial der europäischen Integration, zeigte aber auch Skepsis und Distanz. Für die Schweiz sah er eher Probleme als Chancen, vertraute aber auf ein Arrangement in den wirtschaftlichen Fragen. – Eine Haltung, die ziemlich konstant zu sein scheint.
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