Wer sich fachlich rüsten will für das Für und Wider in den Diskussionen über das neue Abkommen Schweiz – EU, findet im neuen Buch von Europarechtsprofessor Matthias Oesch reichlich Stoff, Argumente und Anregungen.
Im Verhältnis Schweiz – Europäische Union werden die Weichen neu gestellt. Das Ende Jahr fertig verhandelte Abkommen sieht es zumindest vor. Es ist ein guter Moment für einen Rückblick auf die vergangenen 70 Jahre und einen Ausblick auf das, was folgt. Wie hat sich das Verhältnis der Schweiz zur EU entwickelt, verändert und vertieft? Matthias Oesch, Professor für öffentliches Recht, Europarecht und Wirtschaftsvölkerrecht der Universität Zürich, bietet einen Überblick über das vielfältige Beziehungsgeflecht. Er beschreibt und ordnet es ein ins grössere Ganze des Staats- und Demokratieverständnisses der Schweiz. Oder wie es der Autor formuliert: «Der bilaterale Weg in seiner jetzigen Form steht auf dem Prüfstand.»
Das rund 230 Seiten umfassende Kapitel «Bilaterale Abkommen» bildet das Gerüst des Buches. Matthias Oesch beschreibt die etappenweise Entwicklung der Abkommen seit der «ersten Annäherung» 1956, erläutert die institutionellen Regeln, das Verhältnis zwischen unionalem und schweizerischem Recht, die politisch sensiblen Themen Auslegung, Weiterentwicklung und Streitbeilegung. Er fasst die zentralen Inhalte der einzelnen Abkommen zusammen: über den Warenhandel, die Personenfreizügigkeit, den Dienstleistungshandel, das Wettbewerbsrecht, Fragen der Justiz, der Forschung, der Kultur und der Bildung, die Kohäsion und unter «Diverses» auch Themen wie beispielsweise Statistik, Umwelt oder Verteidigung.
Das Beziehungsgeflecht ist sehr vielfältig, aber nicht nur . Matthias Oesch bezeichnet das Vertragswerk als «unübersichtlich und wenig systematisch aufgebaut». Der Autor macht es mit seiner Publikation jedoch überschaubar. Der Europarechts-Experte begnügt sich nicht nur mit der Beschreibung der Entwicklung über die vergangenen 70 Jahre. Er zeigt auch, wie sich die Schweiz durch das Verhältnis zur EU gewandelt hat. Sie wurde zum «zugewandten Ort der EU», nahm über die bilateralen Abkommen ein «janusköpfiges» Naturell an: Partiell sei die Schweiz «mitgliedstaatsähnlich in den unionalen Binnenmarkt integriert», bleibe aber partiell gegenüber der EU auch normaler Drittstaat mit gegenseitigen Rechten und Pflichten nach den klassischen Mustern des Völkerrechts.
Oesch stellt den Charakter der Beziehungen auch ins Verhältnis zu den Verfassungsgrundsätzen Souveränität und Demokratie. Die bereits 1988 im Gesetzesprozess eingeführte Europaverträglichkeitsprüfung führte zum routinemässig vollzogenen «autonomen Nachvollzug» europäischen Rechts. Mit den Weiterentwicklungen des Schengen/Dublin-Besitzstandes gerieten Bundesrat, Parlament und Volk unter Druck, Rechtsakte «durchzuwinken». Mit der im neuen Abkommen für die Weiterführung des bilateralen Weges vorgesehenen fortlaufenden Rechtsübernahme gibt die EU noch mehr den Takt vor für den schweizerischen Gesetzesprozess. Oesch sieht dadurch «das vorherrschende Staats- und Demokratieverständnis in der Schweiz» herausgefordert: Die Substanz der demokratischen Rechte werde «ausgehöhlt».
Die Lage der Schweiz verändere sich aber auch durch die Veränderungen innerhalb der EU. Sie verlange mittlerweile konsequent die Durchsetzung des Acquis communautaire und sei nur noch unter Bedingungen bereit, den Schweizer Sonderweg zu akzeptieren. Sie mache damit klar, dass sich die Schweiz an einem multilateralen Projekt beteilige, dessen Spielregeln sie zu akzeptieren habe. Sonderlösungen würden der Schweiz nur noch in Ausnahmefällen zugestanden. Den Status quo ohne die dynamische Rechtsübernahme gibt es nicht mehr als Option.
Nur ausserhalb der geschlossenen Abkommen verbleibe die Schweiz ein «Drittstaat». Da die EU gegenüber Drittstaaten zusehends protektionistischer auftrete, treffe das auch die Schweiz. Oesch erinnert an die vom französischen Präsidenten Emanuel Macron ausgegebene Parole «L’europe qui protège». Mit dem Amtsantritt von Donald Trump in Washington wird sie erst recht mehr als nur ein Versprechen sein – in der Handels- und Aussenpolitik bis zur Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Das wird die Schweiz als Drittstaat zu spüren bekommen .
Oesch fragt schliesslich, ob die Schweiz ihr Verhältnis zur EU nicht grundsätzlich neu ausrichten sollte. Wäre es nicht besser eine «aktive Mitgestaltung der Zukunft in Verbund mit gleichgesinnten Staaten» anzustreben? Aus «politischer Klugheit und Weitsicht» erachtet es Oesch als geboten, auch die Option eines EU-Beitritts zu prüfen.
Dieser Ratschlag des Europarechtlers Oesch wird zweifellos wenig Zustimmung finden. Selbst Beitrittsbefürworter weichen der Frage aus, da politisch aussichtlos. Dass sich die Frage eines EU-Beitritts aufdrängt, das lehrt uns Matthias Oesch mit seiner neuen Publikation. Das Selbstbild der souveränen Schweiz spiegelt in mancher Hinsicht ein verzerrtes Bild der Wirklichkeit. Der Nachvollzug der in Brüssel gefällten Entscheide wirkt jedenfalls wenig souverän.
Matthias Oesch, Schweiz – Europäische Union, Grundlagen, Bilaterale Abkommen, Autonomer Nachvollzug, Verlag EIZ Publishing, Zürich 2025, 2. Auflage, 296 Seiten, E-Book kostenfrei auf www.eizpublishing.ch
Kurz und kräftig. Die wöchentliche Dosis Aussenpolitik von foraus, der SGA und Caritas. Heute steht Aserbaidschans Beziehung zu Russland im Fokus. Einst postsowjetische Verbündete, distanziert sich Aserbaidschan seit 2020 zunehmend vom Einfluss des Kremls. Nr. 483 | 12.08.2025
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Zu den BeiträgenDas Schweizer Mandat im UNO-Sicherheitsrat (2023 und 2024) fiel in turbulente Zeiten, der Rat hatte Schwierigkeiten, in den grossen Fragen Entscheide zu fällen. Jeden Samstag haben wir das Ratsgeschehen und die Haltung der Schweiz zusammengefasst.
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