Dem «Postwachstum» («Degrowth») widmet Caritas Schweiz ihren diesjährigen entwicklungspolitischen Almanach. Wie lassen sich Armutsbekämpfung und ökologisch verantwortbares, begrenztes Wirtschaften miteinander vereinbaren? Die Antworten sind teils radikal und theoretisch, teils konkreter und eher bescheiden. Insgesamt ziemlich ernüchternd.
In entwicklungspolitischen Kreisen war, vielleicht paradoxerweise, eine gewisse Skepsis gegenüber dem westlichen Wirtschafts- und Lebensmodell schon immer besonders verbreitet. Die globalen Umweltprobleme stellen speziell das Wachstumsprinzip zunehmend infrage. Was bedeutet dies für das Ziel der Nachhaltigkeit, das heisst für die Suche nach dem Optimum von wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Werten? Das Caritas-Jahrbuch für Entwicklungspolitik 2025 bietet unter dem Titel «Postwachstum» eine Reihe von Analysen, Gegenmodellen und kritischen Betrachtungen. Die Autorinnen und Autoren kommen vor allem aus den Sozialwissenschaften, NGO und der Publizistik.
Die Suche nach Alternativen zur Wachstumsökonomie und -gesellschaft geht von der Überzeugung aus, dass eine ökologische Transformation der Wirtschaft ohne grundlegende, systemische Änderung nicht genügen würde, um eine verheerende Klimaerwärmung und andere schwere Schädigungen der natürlichen Lebensgrundlagen zu verhindern. Die Entkoppelung des Wachstums vom Ressourcenverbrauch, beziehungsweise CO2-Ausstoss erfolge zu langsam, heisst es in mehreren Beiträgen, zumal wenn technisch bedingte Effizienzgewinne einen Mehrkonsum förderten. Ausserdem führe der Ersatz fossiler Energieträger zu einem massiven Rohstoffabbau, und dieser erfolge oft zulasten der lokalen, speziell der indigenen Bevölkerung und der Umwelt, einschliesslich des CO2 speichernden Waldes.
Verschiedene Beispiele illustrieren im Weiteren, dass, wie an sich bekannt, der Weg zu grünem Wachstum politisch keineswegs leicht ist. So lagert namentlich die Schweiz ihre klimapolitischen Pflichten teilweise einfach gegen Bezahlung in ärmere Länder aus – bereits bestehen 14 entsprechende Abkommen. Ferner wird zum Beispiel Flugbenzin international immer noch steuerlich privilegiert. Auch im globalen Süden stossen ökologische Umstellungen auf Widerstand, und dies vermutlich nicht nur wegen der Armut im jeweiligen Land. In Senegal zum Beispiel wird die von Bauern, NGO und Forschungsinstituten vorangetriebene Agroökologie immer noch durch Subventionierung von chemischem Dünger und durch Saatgutvorschriften diskriminiert. In Äthiopien rückte die Regierung vom Vorhaben ab, den allzu grossen Viehbestand zu verkleinern.
Ob radikalere Veränderungen realistischer sind? Kritikerinnen und Kritiker des Wachstums nehmen gerne den Kapitalismus ins Visier und versuchen damit, das Thema der Einschränkung des Konsums zu umgehen oder zu entschärfen. Denn sie argumentieren, dass der Zwang zur Kapitalakkumulation eine Produktion bewirke, die nicht von den Bedürfnissen der Menschen ausgehe, auch nicht automatisch mehr Wohlstand und Zufriedenheit schaffe. Ungeplantes Schrumpfen, wird eingeräumt, wäre ein soziales Desaster. Es gehe bei der Neuorientierung am Prinzip der Suffizienz (Genügsamkeit; absolute Begrenzung oder Reduktion des Ressourcenverbrauchs) denn auch um einen Abbau von Ungleichheit sowohl auf nationaler Ebene als auch global. Die Grundversorgung soll sichergestellt werden, über Art und Ausmass der Ressourcennutzung sei demokratisch zu entscheiden.
Teils wird klar für eine starke Rolle des Staats einschliesslich Steuerung der Investitionen plädiert und etwa auf die britische Kriegswirtschaft verwiesen, in der es den Armen besser gegangen sei als zuvor. Teils setzt man Hoffnungen vor allem auf dezentrale Initiativen, auf genossenschaftliche Produktion und Verteilung oder auf eine sukzessive Ausdehnung der nichtkapitalistisch funktionierenden Bereiche: Tätigkeiten in der Familie und freiwilliges Engagement erhielten Raum durch Reduktion der Erwerbsarbeit – allenfalls unter «Jobgarantie». Namentlich die südamerikanische Bewegung «Buen vivir» soll die Strahlkraft nichtwestlicher Konzepte belegen.
In einem Übersichtsartikel wird festgehalten, dass «viele bedenkenswerte Vorschläge vorhanden sind, denen vorwiegend papierener Status zukommt». Wir befänden uns «im Bereich vieler offener Fragen». In der Tat. Welche Wirtschaftsweise und welche Menschendichte sind auf Dauer überhaupt mit den «planetaren Grenzen» verträglich? Wenn die «Reichen» zurückstecken sollen, bleibt unklar, ob etwa aufsteigende Wirtschaftsmächte wie China, Indonesien oder Brasilien noch Wachstum zugute hätten. Für «repressive Formen» des Sozialismus spricht sich natürlich niemand aus, doch persönliche Freiheit scheint nicht zu den erwähnenswerten Grundbedürfnissen und Idealen zu zählen. Wäre sie nicht auch als Potenzial für zukunftsbewusste Verantwortung zu sehen?
In einem Beitrag immerhin wird gerade mit Blick auf soziale und ökologische Ziele zur Vorsicht mit Wachstumskritik gemahnt. Die Verminderung der Armut sei historisch gesehen eng mit Wirtschaftswachstum und die Entwicklung der armen Länder eng mit jener der reichen verknüpft (in gewissem Gegensatz zur Ausbeutungsthese, die in dem Band ebenfalls vertreten wird). Für die radikale Senkung der Treibhausgasemissionen falle der vom Wachstum angetriebene technologische Fortschritt, realistisch betrachtet, weit mehr ins Gewicht als eine Reduktion des Wohlstands oder der zusätzlichen Bevölkerung.
Es bestehen, wie sich wohl bilanzieren lässt, Dynamiken, Zusammenhänge und Wechselwirkungen, denen man nicht ohne Weiteres in Utopien entfliehen kann. Kaum hilft auch ein dogmatisches Entweder – Oder. Es brauche Effizienz, Suffizienz und eine Kreislaufwirtschaft, schreibt eine Autorin. «Die Mischung macht es aus.» Diese konkreter zu suchen, erscheint nach der Lektüre des Bandes als dringend.
Caritas (Hg.), Fabian Saner und Angela Lindt (Redaktion): Postwachstum – Ausweg aus Klimakrise und Armut? Almanach Entwicklungspolitik 2025. Caritas-Verlag, Luzern 2024. 221 S., Fr. 39.-. Beiträge von Martin Arnold, Andrea Baier, Delia Berner, Leonard Creutzburg und Jeannette Behringer, Eduardo Gudynas, Roland Herzog, Angela Lindt, Markus Mugglin, Basil Oberholzer, Dominic Roser und Ivo Wallimann-Helmer, Andrea Roberto Rota, Fabian Saner, Samuel Schlaefli, Guido Speckmann, Lea Trogrlic.
Kurz und Kräftig. Die wöchentliche Dosis Aussenpolitik von foraus, der SGA und Caritas. Heute steht der Konflikt in Kaschmir im Fokus. Durch die erstarkte Präsenz Chinas entwickelt sich der langjährige Konflikt zwischen Indien und Pakistan zu einem multilateralen Problem. Nr. 477 | 06.05.2025
Neue Beiträge von Joëlle Kuntz (La neutralité, le monument aux Suisses jamais morts) und Markus Mugglin (Schweiz – Europäische Union: Eine Chronologie der Verhandlungen) sowie von Martin Dahinden und Peter Hug (Sicherheitspolitik der Schweiz neu denken - aber wie?) Livre (F), Book (E), Buch (D)
Zu den BeiträgenDas Schweizer Mandat im UNO-Sicherheitsrat (2023 und 2024) fiel in turbulente Zeiten, der Rat hatte Schwierigkeiten, in den grossen Fragen Entscheide zu fällen. Jeden Samstag haben wir das Ratsgeschehen und die Haltung der Schweiz zusammengefasst.
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