Ariane Knüsel und Ralph Weber bieten eine gut lesbare Beschreibung der Beziehungen zwischen der Schweiz und China vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Zu den durchgehenden Themen gehören unrealistische Bilder vom fernen Riesenreich, die Dominanz wirtschaftlicher Interessen und eine gewisse Sonderrolle des westlichen Neutralen.
Wirtschaftlicher Nutzen und Abhängigkeit, Faszination und Sorgen wegen der Verhärtung des chinesischen Regimes nach innen wie nach aussen machen das schweizerische Verhältnis zu China zwiespältig und spannungsvoll. Ein historischer Rückblick ist in dieser Lage von besonderem Interesse. Ariane Knüsel, Privatdozentin in Freiburg, und Ralph Weber, Professor an der Universität Basel, stützen sich für ihr Buch auf zahlreiche amtliche, persönliche und andere Quellen, verzichten aber auf eine erschöpfende Behandlung des Themas zugunsten einer illustrativen – und gut illustrierten – Darstellung in bewältigbarer Form.
Die schweizerisch-chinesischen Beziehungen standen immer im Kontext der entsprechenden Beziehungen mächtigerer westlicher Staaten. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts profitierten schweizerische Unternehmen und Missionsgesellschaften von Chinas Öffnung, die Grossbritannien und Frankreich militärisch erzwungen hatten. Die «ungleichen Verträge» garantierten günstige Zölle und exterritoriale Niederlassungen (mit Selbstverwaltung und Gerichtsbarkeit des Heimatstaats). Spezifisch war etwa die Bedeutung der Uhrenexporte seit 1700 bis heute. Nachdem westliche Truppen den Boxeraufstand gegen das Vordringen des Christentums (1899-1900) niedergeschlagen hatten, gelangten Kulturschätze aus massiven Plünderungen auch in die Schweiz. Damals verbreitete sich übrigens die Darstellung Chinas als Drache, die, auf einem Missverständnis des gütigen mythischen Wesens Long beruhend, zur Legitimation der Gewalt geeignet schien.
Trotz Verflechtungen galt die Schweiz nicht als Kolonialmacht, und nach dem Ende des Kaiserreichs gestand ihr die junge Republik 1918 in einem Freundschaftsvertrag die Exterritorialität und die Meistbegünstigung zu. Zur Wahrnehmung der (wirtschaftlichen) Interessen genügten Bern ein Generalkonsulat in Shanghai und Honorarkonsulate. Der Handel (vor allem Seide und Tee aus China, Industrieprodukte aus der Schweiz) entwickelte sich allerdings nicht wie erhofft, bald beeinträchtigt durch die Weltwirtschaftskrise, den Bürgerkrieg und die japanischen Eroberungen – Waffenlieferungen an alle Parteien verbot der Bundesrat erst spät.
Für die Nachkriegszeit hegte man wieder grosse Erwartungen vom «Freien China» als Absatzmarkt. 1945 eröffnete die Schweiz in dieser Perspektive eine diplomatische Vertretung in Nanjing, der Hauptstadt der Republik. Als diese sich dann im Bürgerkrieg vor den Kommunisten auf Taiwan zurückziehen musste, stellte man sich in Bern rasch um. Wollte der Bundesrat zuerst im Mittelfeld der die Regierung der Volksrepublik anerkennenden Staaten sein, so schloss er sich bereits im Januar 1950 Grossbritannien und drei skandinavischen Staaten an. Er berief sich auf die völkerrechtlichen Regeln, rechnete aber damit, sich besonderes Wohlwollen des neuen Regimes zu verschaffen. Auf den frühen Zeitpunkt wurde später immer wieder verwiesen. Da die meisten westlichen Staaten bis Anfang der 1970er Jahre die Regierung in Taiwan als die legitime Vertretung Chinas behandelten, war für Beijing indes vor allem von Bedeutung, in Bern und bei der Uno in Genf über diplomatische Stützpunkte zu verfügen, von denen aus 135 offizielle Mitarbeiter (1962) wirtschaftliche und kulturelle Kontakte zu zahlreichen anderen Ländern entwickeln, Propagandamaterial in alle Welt verteilen und weitgespannte Spionagenetze betreiben konnten.
Während die antikommunistische Stimmung in der Schweiz, amerikanischer Druck und die Staatwirtschaft in China nur wenig Handel aufkommen liessen, hatten Geschäfte Dritter mit technisch relevanten Gütern zur Umgehung von Embargos einige Bedeutung. «Ohne die Umtriebe der chinesischen Botschaft in Bern wäre China also nicht in der Lage gewesen, bereits 1964 Atomwaffen herstellen zu können.»
Zur Zeit der «Kulturrevolution» kam es 1967 zu heftigen Protesten Beijings gegen das Tibet-Institut im Kanton Zürich («Rebellenbanditen»), die gar einen Abbruch der Beziehungen befürchten liessen. Danach stabilisierten sich die Verhältnisse, es kam zu offiziellen Besuchen, einem Handelsabkommen (1974) sowie zu kulturellem und wissenschaftlichem Austausch. Die Reformen nach Maos Tod (1976) liessen in der Schweizer Wirtschaft eine «Goldgräberstimmung» aufkommen. 1980 ging der Lifthersteller Schindler das erste Joint Venture mit einem chinesischen Partner ein. «Der chinesische Markt ist mit Sicherheit kein Eldorado», schrieb die Botschaft aus Beijing im gleichen Jahr. Das Fehlen eines Wirtschaftsrechts im westlichen Sinn, hemmungslose Industriespionage und das Kopieren von Produkten – sogar des Sugus-Fruchtbonbons – erschwerten Handel und Investitionen.
Die gegenseitige Anziehungskraft der beiden komplementären Volkswirtschaften blieb aber bestehen. Das Tiananmen-Massaker an Demonstranten 1989 verurteilte der Bundesrat zwar deutlich, ohne dann aber wie andere Staaten Handel und Zusammenarbeit wesentlich einzuschränken. «Wirtschaftliche Interessen werden, wenn es zur Sache geht, meistens über moralische Bedenken gestellt», lautet das Fazit im Buch. Immerhin waren die Menschenrechte seither ein offizielles Thema. Seinerseits hatte der Zorn von Präsident Jiang Zemin, der 1999 in Bern von einer Tibet-Manifestation überrascht wurde, keine längerfristigen Folgen.
Erst im 21. Jahrhundert wurde die Volksrepublik zum wichtigsten Handelspartner der Schweiz in Asien. Von 2000, kurz vor Chinas Beitritt zur WTO, bis 2022 verzehnfachte sich der Wert der Exporte und Importe. Mit der (ziemlich willkürlichen) Zusprache des Charakters einer Marktwirtschaft – per Fax aus dem Flugzeug nach Beijing – öffnete Bundesrätin Doris Leuthard 2007 den Weg zum ersten Freihandelsabkommen eines kontinentaleuropäischen Lands mit der Volksrepublik. Diese benützte die Schweiz als Experimentierfeld mit Blick auf die EU – in einem strategischen Vorgehen, dem das schweizerische «Durchwursteln» zwischen den Machtblöcken gegenübersteht.
Ariane Knüsel und Ralph Weber halten sich mit Interpretationen und Thesen meistens zurück, zeichnen indes mit den präsentierten Fakten das Bild einer Schweiz, welche die sich wandelnden Konstellationen bisher gut zu nutzen verstand. Immer wieder, auch in ihren reizvollen Exkursen, deuten sie an, dass zwischen dem wirtschaftlichen Austausch und der gegenseitigen Kenntnis eine Lücke zu füllen ist. So würdigen sie beispielsweise Hedwig Brüngger, die erste Person im diplomatischen Dienst, die Chinesisch konnte, erinnern an naive Reiseeindrücke linker Parlamentarier von 1972, kommentieren einen südkoreanisch-chinesischen Comic über die Schweiz und erklären mit dem Chef der Bundespolizei die Schwierigkeit der Spionageabwehr (1955) mit der Sprache der Chinesen und damit, dass «sie sich alle sehr ähnlich sehen».
Ariane Knüsel und Ralph Weber: Die Schweiz und China. Von den Opiumkriegen bis zur Neuen Seidenstrasse. Hier und jetzt, Zürich 2024. 352 S., Fr. 44.-.
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