Die Freiburger Europarechts-Expertin Astrid Epiney über Schiedsgerichtsbarkeit, Ausgleichsmassnahmen und die Rolle des Europäischen Gerichtshofs in den neuen Verträgen der Schweiz mit der EU. Und mit einem klaren Nein zur Forderung nach einem obligatorischen Referendum mit Ständemehr.
In meinem Dorf hat der 1.-August-Redner, der SVP-Ständerat Salzmann, uns eröffnet, nach einer Annahme der neuen Verträge mit der EU werde das «Fürobepikett» die Bratwürste nicht mehr grillieren und verkaufen dürfen. Sollte das so sein, erhielte ein Nein viel Sinn. Ist es so? Hat Herr Salzmann Recht?
Das ist eine Frage zum neuen Abkommen über die Lebensmittelsicherheit, ein sehr technisches Abkommen, da gibt es zahlreiche EU-Rechtsakte, die übernommen würden. Ich kenne sie nicht alle, und ich kann Ihnen nicht sagen, ob spezifisch Grillwürste geregelt sind; jedenfalls sind aber gewisse Aspekte der Lebensmittelhygiene Gegenstand des Abkommens, wobei sich das Schweizer Recht hier bereits seit vielen Jahren an internationale Standards und das EU-Recht anlehnt. Im Übrigen sieht das EU-Recht bei der Lebensmittelhygiene gerade bei direkten und gelegentlichen Verkäufen zahlreiche Ausnahmen vor, und diese könnten a priori vorliegend greifen. Grundsätzlich stelle ich fest, dass sehr häufig Dinge behauptet werden, die einfach nicht stimmen. Neulich hörte ich, dass EU-Kontrolleure zu Grillfesten oder ähnlichen Feiern «einfach so» erscheinen würden. Das ist für EU-Mitgliedsstaaten falsch, und das ist auch für die Schweiz falsch. Der Vollzug von EU-Regeln liegt in den EU-Mitgliedsstaaten bei den mitgliedsstaatlichen Behörden, und in Bezug auf die Verträge in der Schweiz ist das sowieso so. Allfällige Kontrollbefugnisse der Kommission – die es übrigens in Bezug auf die Schweiz heute schon aufgrund des Landwirtschaftsabkommens gibt – werden immer in Kooperation mit den zuständigen nationalen Behörden wahrgenommen.
In Deutschland hat mir einmal ein hoher Beamter des Bundeslands Niedersachsen – also VW – erklärt, wie seine Regierung es mit ungeliebten EU-Vorschriften hält: Man macht, was man für gut hält, wartet ab, wie Brüssel reagiert und lässt es gegebenenfalls auf eine Busse ankommen. So geschieht es oft in der EU. Die Schweiz könnte doch auch so handeln.
Ich habe Mühe mit dem Ansatz, einen verbindlichen Rechtsakt bewusst nur teilweise umzusetzen und einmal zu schauen, was dann geschieht. Das halte ich aus rechtsstaatlicher Sicht für problematisch, ist es in einem Rechtsstaat doch von zentraler Bedeutung, dass der Grundansatz der Wahrung des Rechts Leitlinie staatlichen Verhaltens ist. Zu beachten ist aber, dass gerade EU-Regelungen häufig das Resultat von schwierig ausgehandelten Kompromissen sind. Das sind dann verbindliche Texte, die man auslegen und anwenden muss, und es ist mitunter nicht ganz einfach zu erkennen, welche Tragweite den verschiedenen Vorgaben zukommt. Über gewisse Fragen kann es dabei zu unterschiedlichen Auslegungen und möglicherweise Streitigkeiten kommen. Hier kommen dann gegebenenfalls die gerichtlichen Streitbeilegungsverfahren zum Zug.
Auf die Schweiz bezogen, heisst das also: In Brüssel wird eine Regel beschlossen, die Schweiz muss ein Gesetz machen, das dieser Richtlinie entspricht, die Regierung in Bern erlässt eine Verordnung, die Behörden befolgen sie, und es gibt überall Spielräume. Um bei der von Ständerat Salzmann zitierten Bratwurstproblematik zu bleiben: Bevor man die EU beschuldigt, müsste man schauen, wie die zuständigen Ämter in der Schweiz verfahren. Richtig?
Genau. Es kommt natürlich auch darauf an, worum es geht, ob es sich um eine direkt anzuwendende Verordnung oder eine national umzusetzende Richtlinie handelt. Es gibt mehr oder weniger grosse Spielräume. Und wir haben zur Kontrolle der Einhaltung des Binnenmarktrechts nicht dieselben Verfahren wie innerhalb der EU. In der EU ist die EU-Kommission als Hüterin des Unionsrechts verpflichtet, für die Wahrung des Binnenmarktrechts zu sorgen und gegebenenfalls vor dem Europäischen Gerichtshof gegen Mitgliedsstaaten zu klagen, was sie regelmässig tut. Im bilateralen Binnenmarktrecht haben wir das Schiedsgerichtsverfahren. Die Kommission agiert hier nicht als unabhängiges Kontrollorgan, sondern als Interessenvertreterin der EU, so wie der Bundesrat als Interessenvertreter der Schweiz agiert. Da kann es vorkommen, dass man es nicht als opportun erachtet, ein Streitbeilegungsverfahren einzuleiten, obwohl man meint, man sei im Recht und der andere habe gegen eine Verpflichtung verstossen.
Wie das?
Das kann verschiedene Gründe haben. Dass man die ganze Angelegenheit nicht so wichtig findet. Oder dass man innerhalb der EU auch in den Mitgliedsstaaten ein Problem mit der vorliegenden Streitfrage hat. Oder dass man irgendeine Frage politisch nicht allzu hoch kochen möchte.
Was denken Sie, wie oft wird ein solches Schiedsgericht angerufen werden?
Sehr selten, ist meine Prognose. In aller Regel wird man sich einigen. Wir haben seit etwas weniger als 25 Jahren Binnenmarktabkommen in den Bereichen Land- und Luftverkehr, Personenfreizügigkeit, technische Handelshemmnisse und Landwirtschaft…
…die bilateralen Verträge I…
Die Streitfälle können sie an einer Hand abzählen, und die nicht gelösten betreffen im Wesentlichen das Entsenderecht. Alles andere konnte man lösen. Die EU wird immer dann ein ernsthafteres Problem mit einer schweizerischen Regelung oder Praxis haben, wenn ihre Mitgliedsstaaten ein grösseres Problem damit haben, insbesondere, wenn der Eindruck entsteht, dass die Schweiz sich nicht an gewisse EU-Regeln hält, aber ebenso wie ein EU-Staat Zugang zum Binnenmarkt hat.
Zur Präzisierung: Nur die Vertragsparteien können den Schiedsmechanismus anrufen – ein einzelner Bürger oder ein Verband nicht?
Genau so. Wenn sich ein Einzelner in seinen Rechten, die aus den Verträgen erwachsen, verletzt fühlt, zum Beispiel wenn ein Familiennachzug nicht gewährt wird, dann kann diese Person wie heute schon den normalen innerstaatlichen Rechtsweg beschreiten. Das Schiedsgericht kann nicht mit Rechtsstreitigkeiten zwischen Einzelnen und Behörden befasst werden. Wenn teilweise gesagt wird, das Bundesgericht verliere seine Kompetenz in Binnenmarktangelegenheiten, dann ist das daher nicht zutreffend. Das Bundesgericht und die anderen zuständigen Gerichte werden wie heute über die entsprechenden Streitigkeiten zu befinden haben.
Könnte ein Schweizer Bundesgerichtsurteil vor ein Schiedsgericht gebracht werden?
Die EU-Kommission könnte die Einsetzung eines Schiedsgerichtes wegen eines abkommensrechtswidrigen Urteils des Bundesgerichts oder einer abkommensrechtswidrigen Rechtsprechung des Bundesgerichts verlangen. Das ist theoretisch vorstellbar, praktisch wird es aber wegen der richterlichen Unabhängigkeit – ein auch in der Union zentrales Element des Rechtsstaats – kaum hierzu kommen.
Einer der grossen Streitpunkte ist die sogenannte dynamische Übernahme von neuem EU-Recht durch die Schweiz. Gegner nennen sie «Automatismus», das Gegenargument lautet, die Schweiz habe «immer» das Recht, selber zu entscheiden. Lässt sich der Unterschied zwischen dem heute praktizierten «autonomen Nachvollzug» und der dynamischen Rechtsübernahme abschätzen? Anders gefragt: Nutzt die Schweiz die vorhin besprochenen Spielräume aus?
Zunächst ist zu betonen, dass nur vier der bestehenden Abkommen von dieser dynamischen Rechtsübernahme erfasst sind: Personenfreizügigkeit, Landverkehr, Luftverkehr und technische Handelshemmnisse…
…die gegenseitige Anerkennung von Produkte-Zulassungen…
Hinzu kommen gegebenenfalls die beiden neuen Abkommen über Elektrizität und Lebensmittelsicherheit, über die wohl separat abgestimmt wird. Die dynamische Rechtsübernahme in diesen Bereichen stellt sicherlich einen bedeutenden Systemwechsel dar. Doch schon heute ist es so, dass Schweizer Gesetze laufend an die Rechtsentwicklungen in der EU angepasst werden. Dabei erfolgen Anpassungen nicht nur im Rahmen des autonomen Nachvollzugs, sondern auch im Rahmen der bestehenden Abkommen. Denn die bestehenden Binnenmarktabkommen der «Bilateralen I» waren von Beginn an auf Weiterentwicklung und Anpassung ausgelegt, da nur über solche Anpassungen ihre Zielsetzung – die Teilnahme der Schweiz an gewissen Teilen des EU-Binnenmarkts – erreicht werden kann.
Worin liegt die Dynamik? Was ist die Differenz zu den heute praktizierten Rechtsanpassungen?
Für eine Übernahme weiterentwickelten EU-Rechts ist heute schon, wie auch nach den Bilateralen III, ein Beschluss des einstimmig entscheidenden Gemischten Ausschusses aus Vertretern der Schweiz und der EU notwendig. Heute können die Schweiz oder die EU aber eine Anpassung der Abkommen auch ablehnen, ohne dass damit eine Verletzung vertraglicher Pflichten einherginge. Neu wird nun eine grundsätzliche Pflicht beider Vertragsparteien zur Übernahme weiterentwickelten EU-Rechts – dessen Ausmasse sich aus den Anhängen der betreffenden Abkommen ergeben – verankert. Die Abkommen wurden in der Vergangenheit unzählige Male angepasst, in den letzten Jahren jedoch weniger als auch schon, weil die EU ihre Zustimmung wegen der ungelösten «institutionellen Fragen» verweigerte. Die meisten dieser Anpassungen waren technischer Natur, und häufig hat auch die Schweiz ein grosses Interesse an diesen Anpassungen.
Wie geschieht diese Rechtsübernahme – wie macht die Schweiz das?
In den Anhängen mit den Verweisen auf EU-Rechtsakte steht in gewissen Abkommen, dass die Schweiz diese Rechtsakte «oder äquivalentes Recht» anwenden muss. Teilweise wendet die Schweiz auf dieser Grundlage direkt EU-Rechtsakte an, teilweise greift sie auf eine äquivalente Rechtsetzung zurück. Die Schweizer Formulierungen sind im Falle einer solchen äquivalenten Rechtsetzung sehr eng an das EU-Recht angelehnt, weichen aber gelegentlich ein bisschen ab. Diese Möglichkeit wird im Personenfreizügigkeitsabkommen wegfallen. Die sogenannte Äquivalenzmethode wird neu durch die Integrationsmethode ersetzt.
Wie viel macht das aus?
Klar wird der Spielraum etwas reduziert. Man wird dann in Zukunft Verordnungen, die ja in der EU gelten wie Gesetze, direkt anwenden müssen, währenddessen man das heute ein bisschen flexibler handhaben konnte. Nach meinem Dafürhalten sollte dieser Unterschied aber nicht überbewertet werden. Heute schon geht die Schweiz ja davon aus, dass Völkerrecht im innerstaatlichen Bereich gilt, sobald es verbindlich wird. Sogar in Abkommen, die auf der Äquivalenzmethode beruhen, wenden wir EU-Rechtsakte daher heute schon teilweise direkt an, so im Personenfreizügigkeitsabkommen etwa die Verordnung über die Koordination der Systeme sozialer Sicherheit.
Was ist die Rolle des Europäischen Gerichtshofs in der bilateralen Schiedsgerichtsbarkeit? Wenn ich richtig verstehe, bestimmt der EuGH, wie EU-Recht auszulegen ist, und es gibt für das Schiedsgericht keinen Spielraum.
Wenn es im Gemischten Ausschuss keine Einigung gibt, kann eine der beiden Vertragsparteien – die Schweiz, repräsentiert vom Bundesrat oder die EU, repräsentiert von der EU-Kommission – die Einsetzung eines Schiedsgerichts verlangen…
… Drei Personen, je eine von den beiden Parteien bestimmt, welche sich auf einen Präsidenten / eine Präsidentin einigen …
Der EuGH muss vom Schiedsgericht angerufen werden, wenn für die Entscheidung der Streitigkeit die Auslegung von in die Abkommen übernommenem EU-Recht relevant ist. Dann entscheidet der EuGH über diese Auslegung, aber nur darüber, und nicht auf den konkreten Streitfall bezogen. Die Entscheidung über den Streitfall obliegt dem Schiedsgericht, wobei es aber die Auslegung durch den EuGH zugrunde legen muss.
Aber die Entscheidung des EuGH ist verbindlich?
Die Urteile des EuGH sind schon verbindlich, dieser erstellt keine unverbindlichen Gutachten. Aber die konkrete Streitigkeit wird vom Schiedsgericht entschieden. Das ist von grosser Bedeutung, weil im Binnenmarktrecht häufig die Verhältnismässigkeit entscheidend ist. Es geht ja meistens um Diskriminierungen oder Beschränkungen. Solche Massnahmen kann man immer grundsätzlich mit dem öffentlichen Interesse rechtfertigen, aber nur, wenn sie verhältnismässig sind. Und diese Verhältnismässigkeitsfrage ist dann eine konkrete Frage im konkreten Anwendungsfall.
Können Sie ein Beispiel geben?
Nehmen wir die Entsendeproblematik. Wenn die EU der Ansicht sein sollte, in der Schweiz würden ausländische Unternehmen, die Arbeitnehmer entsenden, zu viel kontrolliert, was unverhältnismässig sei, dann wird diese konkrete Frage das Schiedsgericht entscheiden. Der EuGH wird im Vorfeld nur sagen, die Schweiz könne – wie die EU-Mitgliedsstaaten – zur Sicherstellung des Arbeitnehmerschutzes Kontrollen durchführen, die aber verhältnismässig und nichtdiskriminierend sein müssten. Deswegen wird man in vielen Fällen aus dem Auslegungsurteil des EuGH noch nicht verlässlich sagen können, wie ein Streitfall entschieden wird. Es mag Fälle geben, wo sich der Entscheid zwingend aus der Auslegung des EuGH ergibt, aber oft ist dies nicht der Fall.
Aber in der EU kann doch der EuGH einen Mitgliedsstaat direkt verurteilen, zum Beispiel zu Busszahlungen?
Innerhalb der EU kann die EU-Kommission gegen einen Mitgliedsstaat klagen, weil er die EU-Verträge verletzt. In diesen Vertragsverletzungsverfahrens entscheidet der EuGH direkt über die Vereinbarkeit einer nationalen Massnahme mit den EU-Verträgen. Im Verhältnis zur Schweiz gibt es das nicht.
Wenn die Schweiz beim Schiedsgericht verliert, kann die EU «Ausgleichsmassnahmen» verfügen, die laut Unterlagen des Bundes den « Rahmen aller Binnenmarktabkommen» umfassen. Es muss also nicht Gleiches mit Gleichem vergolten werden. Gibt es Leitplanken für solche Ausgleichsmassnahmen?
Das ist eine schwierige Frage. Aber in allen institutionellen Protokollen steht sinngemäss, dass Ausgleichsmassnahmen eine Störung des Gleichgewichts von Rechten und Pflichten ausgleichen sollen. Die Ausgleichsmassnahmen müssen also ein durch die Vertragsverletzung einer Partei entstandenes Ungleichgewicht ausgleichen. Sie dürfen keinen punitiven Charakter haben und müssen verhältnismässig sein. Über die Verhältnismässigkeit entscheidet das Schiedsgericht.
Wie wird das vor sich gehen? Zu welchem Zeitpunkt beurteilt das Schiedsgericht, ob eine Ausgleichsmassnahme rechtens ist?
Nach dem Schiedsspruch wird eine Partei kommunizieren, ob und welche Ausgleichsmassnahmen sie ergreifen will. Bevor sie diese in Kraft setzt, muss sie drei Monate warten. In dieser Zeit kann die andere Partei vor einem Schiedsgericht geltend machen, die Massnahmen seien unverhältnismässig. Innerhalb der Dreimonatefrist muss das Schiedsgericht darüber entscheiden. Diese Wartefrist ist nach meinem Dafürhalten ein grosser Verhandlungserfolg für die Schweiz.
Als die EU die Zulassung von Schweizer Medizinalprodukten verweigerte, wurde das in der Schweiz als politisch motivierter Akt verstanden, vielleicht um etwas mehr Energie in die bilateralen Verhandlungen zu bringen. Wird das weiter möglich sein?
Das wäre nur als Ausgleichsmassnahme möglich, nachdem das Schiedsgericht eine Vertragsverletzung der Schweiz festgestellt hat und diese Massnahme ein darauf beruhendes Ungleichgewicht auszugleichen vermag und damit verhältnismässig ist. Allein der Umstand, dass eine Ausgleichsmassnahme in einem anderen Abkommen ergriffen wird als in dem, wo eine Verletzung festgestellt wird – wenn etwa eine Vertragsverletzung in der Personenfreizügigkeit mit einer Massnahme im Abkommen über technische Handelshemmnisse ausgeglichen würde – führt noch nicht zur Unverhältnismässigkeit. Aber die kann natürlich aus anderen Gründen vorliegen.
Wie würde «Unverhältnismässigkeit» bestimmt? Können Sie ein Beispiel nennen?
In der EU gilt für Helikopterpiloten grundsätzlich eine Altersgrenze von 60 Jahren. Wenn die Schweiz nun die Grenze bei 65 Jahren belassen will, führte dies ohne spezifische Massnahmen dazu, dass beispielsweise ein 64jähriger Schweizer Pilot in Deutschland fliegen dürfte, ein 64jähriger deutscher Pilot aber nicht; denn Helikopterpiloten mit der Zulassung in einem Land dürfen überall in der EU fliegen. Das wäre ein Ungleichgewicht. Wenn die EU dann als Ausgleichsmassnahme die Anpassung des Abkommens über technische Handelshemmnisse im Bereich der Maschinen verweigern würde, wäre dies nach meinem Dafürhalten unverhältnismässig. Verhältnismässig wäre, dass der 64jährige Schweizer Pilot in der EU nicht mehr fliegen dürfte. Das Kriterium der Verhältnismässgikeit wird aber gegebenenfalls durch die Praxis der Schiedsgerichte präzisiert werden müssen. Die in Betracht kommenden Ausgleichsmassnahmen können nicht für alle denkbaren Fallgestaltungen im Vornherein umschrieben werden, und der Text lässt hier einen gewissen Spielraum, was aber angesichts der Vielfalt der möglichen Konstellationen unvermeidlich ist.
Bundesrat Cassis sagt, der Schweizer Gesetzgeber solle en connaissance de cause entscheiden können, und Bern werde die EU fragen, welche Ausgleichsmassnahmen sie zu treffen gedenke.
Ich weiss nicht, ob das realistisch ist. Probleme zu lösen und Fragen zu beantworten, bevor sie sich stellen, ist nicht die Praxis in der EU. Festzuhalten ist aber, dass das System der Ausgleichsmassnahmen im Falle der Nichtbeachtung eines Schiedsgerichtsurteils gängige Praxis in Freihandelsabkommen ist, und eine Streitbeilegung bezüglich der Verhältnismässigkeit zur Verrechtlichung von Streitigkeiten beiträgt und damit dem Schwächeren besonders nutzt.
In der EU werden Vertragsverletzungen durch Geldbussen abgegolten. Wäre es denkbar, dass die EU der Schweiz eine Art Bussentarif vorlegt?
Die Bussen im EU-Recht sind in keinster Weise mit dem Ausgleichsmechanismus in den neuen bilateralen Verträgen vergleichbar. Diese Bussen, als «Zwangsgeld» und «Pauschalbetrag» bezeichnet , werden vom Europäischen Gerichtshof im Zusammenhang mit Vertragsverletzungsverfahren gegen einen Mitgliedsstaat verhängt. Sie sollen dazu angehalten werden, sich wieder an die Verträge zu halten. In unserem Schweizer Setting geht es nicht um Zwang, sondern um den Ausgleich von Ungleichgewichten. Geld könnte als Ausgleichsmassnahme in Frage kommen, aber sie sind nicht darauf reduziert.
Dem Bundesrat wird vorgeworfen, dass er die Dynamisierung und die damit verbundenen Veränderungen herunterspiele – dass mehr auf die Schweiz zukommen werde, als die Regierung glauben macht. Sehen Sie das auch so?
Mir scheint, dass der Mechanismus im erläuternden Bericht des Bundesrats zutreffend erörtert wird. Die dynamische Rechtsübernahme stellt aber eine echte qualitative Weiterentwicklung der Abkommen dar: Heute erfordert die Anpassung der Abkommen ein Einvernehmen der Vertragsparteien, die eine solche auch ohne Gründe ablehnen können, was übrigens auch für die Schweiz äusserst unvorteilhaft sein kann, wie wir bei der Zulassung von Medtech-Produkten gesehen haben. Neu soll es dagegen eine grundsätzliche Pflicht der Übernahme weiterentwickelten EU-Rechts geben.
Wie gross ist der Unterschied?
Im Ergebnis nicht so gross, weil wir ja auch bisher die Abkommen ständig angepasst haben. Die Zahl der Anpassungen liegt im dreistelligen Bereich. Die meisten haben wir gar nicht gemerkt.
Bundesrat Jans sagt, man werde «immer nein sagen» können. Stimmt das ? Werden die Schweizer Entscheidungsmöglichkeiten nicht ausgehöhlt, wenn sie unter dem Druck möglicher Ausgleichsmassnahmen gefällt werden?
Es wird häufig gesagt, durch diese dynamische Rechtsübernahme würden die direktdemokratischen Rechte ausgehebelt, das Parlament habe nichts mehr zu sagen und das Volk schon gar nicht. Das ist so nicht zutreffend. Die Schweiz geht davon aus, dass jede Änderung eines Abkommens einen neuen völkerrechtlichen Vertrag darstellt. Jede solche Änderung wird im Gemischten Ausschuss beschlossen, neu mit dem Unterschied, dass gemäss dynamischer Rechtsübernahme grundsätzlich eine Pflicht besteht, eine solche Anpassung zu beschliessen. Ob der Schweizer Vertreter im Gemischten Ausschuss einer Übernahme weiterentwickelten EU-Rechts zustimmen darf, ist innerstaatlich geregelt: Soweit der Bundesrat über eine selbständige Vertragsschlusskompetenz verfügt, reicht sein Entscheid; andernfalls muss der Gesetzgeber tätig werden und die ordentlichen Verfahren, inklusive des Referendumsrechts, kommen zum Zuge. Erst nach deren Durchlaufen darf der Schweizer Vertreter im Gemischten Ausschuss einer Übernahme zustimmen. Im Falle eines Referendums wird teilweise vertreten, die Demokratie werde ausgehöhlt, weil die Stimmbürgerinnen unter dem Druck von Ausgleichsmassnahmen abstimmen, die nicht bekannt sind…
Das stimmt natürlich, oder nicht?
Bei jeder Entscheidung und bei jeder Abstimmung sind gewisse Folgen zu gewärtigen, und nicht immer sind diese genau absehbar; es geht hier also nicht um ein Alleinstellungsmerkmal der hier diskutierten Konstellation, und die Stimmbürger müssen immer mit möglichen Konsequenzen einer Entscheidung umgehen. In diesem Zusammenhang von einer Aushöhlung der direkten Demokratie zu sprechen, erscheint mit nicht adäquat.
Wird man «immer» nein sagen können?
Der Grundsatz ist sicherlich derjenige der Übernahme, ist den Abkommen doch eine entsprechende grundsätzliche Pflicht zu entnehmen. In den allermeisten Fällen wird man auch ein Interesse daran haben, dass ein Abkommen angepasst wird. Das Verfahren ist ja auch ein Schutz für die Schweiz.
Wie stehen die bilateralen Verträge im internationalen Vergleich aus? Wie einmalig und «massgeschneidert» ist das Modell der dynamischen Rechtsübernahme mit Schiedsgerichtsbarkeit ?
In Freihandelsabkommen gibt es häufig Streitbeilegungsverfahren, die ähnlich gestrickt sind, wie unseres, mit Schiedsgerichten und Ausgleichsmassnahmen. Indessen kennen Freihandelsabkommen keine Beteiligung des Europäischen Gerichtshofes und keine dynamische Rechtsübernahme. Diese besonderen Charakteristika beruhen darauf, dass die Schweiz am Binnenmarkt der EU teilnimmt. Das ist der Hintergrund. Wenn manchmal gesagt wird, wir könnten ja auch mit China handeln, ohne dass wir chinesisches Recht übernehmen müssten, wird dieser Aspekt ausgeblendet, denn in China werden unsere Produktkonformitätsbewertungen nicht anerkannt. Das ist der grosse Unterschied. Im Übrigen wurden diese institutionellen Regelungen zwar nicht auf Ersuchen der Schweiz ausgearbeitet, aber sie dürften auch im Interesse der Schweiz sein. Wenn man sich ein bisschen im internationalen Kontext umschaut, gehören die EU-Mitgliedsstaaten und die EU wohl zu den verlässlicheren Partnern, die es da so gibt. Dass wir also hier geregelte Beziehungen haben und auch eine gewisse Absicherung und Rechtssicherheit durch diese Verfahren scheint mir von grosser Bedeutung.
Die Absicherung liegt in der Schiedsgerichtsbarkeit?
Der Wert gerichtlicher Streitbeilegung ist in der EU hoch. Rechtsstaatlichkeit und Beachtung des Völkerrechts kommen in der EU eine sehr grosse Bedeutung zu, und ihre Wertehaltung unterscheidet sich hier von anderen internationalen Akteuren, wie zum Beispiel die USA, die übrigens schon vor Trump hin und wieder dazu neigten, das Völkerrecht kreativ auszulegen.
Die bilateralen Verträge werden nach dem Willen der Regierung dem fakultativen Referendum unterstellt. Gegner fordern ein obligatorisches Referendum, bei dem Volk und Stände entscheiden. Wie halten Sie es mit der Frage des Ständemehrs?
Der Bundesverfassung ist zu entnehmen, dass das obligatorische Staatsvertragsreferendum nur beim Beitritt zu supranationalen Organisationen oder zu Organisationen kollektiver Sicherheit zum Zuge kommt. Beides ist vorliegend nicht gegeben. Damit ist entscheidend, ob ein ausserordentliches obligatorisches Staatsvertragsreferendum geboten oder zumindest zulässig ist, wie dies teilweise vertreten wird. Nach meinem Dafürhalten ist diese Frage indessen zu verneinen. Die Reichweite der Volksrechte ergibt sich aus der Verfassung. Es hängt nicht vom Willen der Behörden ab, ob ein fakultatives oder obligatorisches Referendum zum Zuge kommt. Die Volksrechte haben im schweizerischen Verfassungsrecht keinen plebiszitären Charakter. Hinzu kommt, dass im Fall des obligatorischen Referendums der verfassungsrechtliche Grundsatz «eine Person – eine Stimme» (also der Grundsatz der Stimmengleichheit) eingeschränkt wird, was ebenfalls dafür spricht, dass diejenigen Konstellationen, in denen es zur Anwendung kommt, im Vornherein klar umschrieben sind und die Verfassung in diesem Sinn auszulegen ist.
Die Gegner machen die bilateralen Verträge mit der EU zur zentralen aussenpolitischen Frage auf Jahre hinaus, und sie sagen, ein so wichtiger Entscheid müsse vom Verfassungsgeber – Volk und Ständen – gefällt werden. Die Bundesversammlung habe dazu die Kompetenz.
Ich verstehe die Stossrichtung des Arguments. Es implizierte aber eine Verfassungsänderung , die man natürlich anstreben kann. Jedenfalls sollte nicht das Gefühl erweckt werden, es werde überhaupt nicht abgestimmt werden. Denn das fakultative Referendum kommt jedenfalls zum Zuge.
Bei der Abstimmung über den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum EWR 1991 wurde ein obligatorisches Referendum mit Ständemehr angeordnet.
Es gibt keine ständige Praxis, und wir haben die Ausweitung des obligatorischen Staatsvertragsreferendums mehrfach abgelehnt. Der EWR hatte supranationale Elemente, und er war der einzige Anwendungsfall nach der Neuordnung des Staatsvertragsreferendums. Bei allen anderen wichtigen Verträgen, wo wir sogar schon eine dynamische Rechtsübernahme hatten, die deutlich weiterging, Schengen/Dublin, zum Beispiel, kam das fakultative Referendum zum Zug.
Ein Ständemehr würde die Legitimität des Entscheids erhöhen.
Wenn es knapp wird, wären wir in jedem Fall in einer politisch sehr schwierigen Lage. Nehmen wir an, das obligatorische Referendum kommt zum Zuge, und die Verträge werden mit einem Volksmehr von 53 Prozent angenommen und mit einem Ständemehr von 12 gegen 11 abgelehnt. Oder wir haben bei einem fakultativen Referendum ein Volksmehr von 50,8 Prozent und 16 ablehnende Kantone. In beiden Beispielen wäre die Situation politisch sehr schwierig. Auch dies spricht dafür, die Verfassung in dieser Frage eng auszulegen und die Umschreibung des Anwendungsbereichs des obligatorischen Staatsvertragsreferendums als abschliessend anzusehen. Wenn man Sui-Generis-Spielregeln zulässt, führt dies automatisch dazu, dass bei knappen Ergebnissen die Legitimität angezweifelt wird, weil die Spielregeln nicht im Vornherein klar waren, übrigens in beide Richtungen und in potentiell sehr vielen Konstellationen. Ich bin für klare Spielregeln.
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