Kolumne

Schweiz: Die Jubelposaunen sind schlecht gestimmt

Ein Politologe sollte es nie tun. Nie auf die Schnelle reagieren und sich in eine Analyse stürzen, bei der er sich die Flügel verbrennen kann. Um das Schlimmste abzuwenden, geht er einen Schritt zurück und befasst sich nicht mit der unmittelbaren Aktualität. Mit einem Auge auf dem Ereignis und dem anderen auf dessen Kontext, bemüht er sich um das richtige Gleichgewicht zwischen der kurzen und der längeren Dauer, die der Historiker Fernand Braudel immer privilegiert sehen wollte. Was für ihn zählt, ist alles Übrige – alles, was nicht gesagt wird, aus Furcht der Realität ins Auge zu sehen oder sich den scharfen Kritiken einer Meinungsmache auszusetzen, die Ergebnisse, die zweifelhafter sind als gewöhnlich zugegeben, mit politischen Sprachregelungen beschönigt.

Wenn politische Machthaber die Wahrheit vor ihren Bürgern verbergen, verlieren sie Glaubwürdigkeit und Legitimität. Wenn sie nicht aufpasst, widerfährt dies auch der Schweiz. Denn im Gegensatz zu den apathischen Verlautbarungen des Bundesrats bleibt die internationale Politik eine Frage der Kräfteverhältnisse. Weil er dies nicht verstanden hat oder nicht verstehen wollte, zahlt er heute den Preis in Gestalt von 39 Prozent Zoll, den das Weisse Haus auf Wareneinfuhren aus der Schweiz verhängt hat. Diese Verfügung hat die Eidgenossenschaft in tiefe Ratlosigkeit gestürzt. Über ihr Ausmass ist man sich noch nicht bewusst, denn die Krise ist weniger konjunkturell als strukturell. Sie führt der Schweiz nicht nur ihre Herausforderungen vor Augen, sondern auch die Schwäche ihrer Legenden, die sie beharrlich bestreitet.

Zuerst betrifft dies, Ehre wem Ehre gebührt, die Souveränität. Wer fügt heutzutage der schweizerischen Souveränität Schaden zu, und dies nicht nur im Wirtschaftlichen und Kommerziellen? Ist es die Europäische Union oder sind es die Vereinigten Staaten? Wer bringt ihre Exporte in Gefahr? Sind es die USA oder die Siebenundzwanzig EU-Staaten? Wer ist die grössere Gefahr für Bern ? Washington oder Brüssel? Sind jene tapferen Helvetier, die mit den starken Armen und den schwachen Ideen, nicht zutiefst unanständig, wenn sie sich Trump wie erstklassige Arschlecker anbiedern und für Europa nichts als Hass bekunden?

Dann der berühmte helvetische Pragmatismus, mit dem man uns wochenlang zugedröhnt hat. «Ihr werdet sehen, wir werden uns besser schlagen als die andern». Nun musste man sehen, was man nicht sehen wollte, nämlich, dass wir uns schlechter geschlagen haben. Das Rezept des Pragmatismus ist verpufft, weil der Präsident der USA mit solchem Pragmatismus nichts anfangen kann.  Der «helvetische Pragmatismus» ist ihm schnuppe. Er pfeift darauf. Die einzige Geschichte, die ihm am Herzen liegt, ist seine eigene.

Dritter, unumgänglicher Punkt: Die Amerikafreundlichkeit. Wie andere europäische Länder auch, ist die Schweiz vom amerikanischen Modell fasziniert. Doch dieses sollte nicht – oder nicht mehr – zwingend der Bezugspunkt auf dieser Seite des Atlantiks sein.  Die mannigfachen US-Qualitäten sind ausser Zweifel, aber sie werden über Gebühr wie Idole verehrt. Das gilt nicht nur für die Herdenschafe des triumphierenden Kapitalismus, sondern auch für eine gewisse einheimische Linke, die in Übertreibung des «Butlerismus», nach der kalifornischen Philosophin Judith Butler, die Prinzipien einer cancel culture verinnerlicht hat, deren hauptsächliche Glanzleistung darin besteht, die Demokratische Partei bei den Präsidentschaftswahlen im vergangenen November in die Niederlage getrieben zu haben.

Dann, o welch empfindliche Sache, die Konkordanz. Im vorliegenden Fall hat sie versagt, weil die sogenannte classe politique, die sie beständig vergöttert, schon längst nicht mehr an Bord ist. Während das EDA offenkundig inexistent war, lag das Dossier in den Händen von zwei Bundesräten und des SECO. Das ist ihnen zu gönnen, aber bis zu Trumps Ankündigung haben sie alles falsch gemacht. Um sich in extremis in mündlicher Nachprüfung zu retten, haben sie einen Canossagang angetreten, von dem sie unverrichteter Dinge zurückgekehrt sind. Ohne Zweifel gibt es keinen Konsens in der Sache. Unter der Bundeskuppel und auf den Parlamentsbänken waren die internen Gegensätze zwischen der Linken, bis hin zu einem Teil der Mitte, und der Rechten zu gross. Während diese ständig an Bedeutung zunahmen, vertiefte sich der Graben im Bundesrat umso mehr. Die Auseinandersetzung um die amerikanischen Zölle hat eine neue politische Bruchlinie aufgetan, die auch die schönsten Predigten und andere Lobpreisungen über die Vorbildlichkeit des Schweizer Systems nicht aus der Welt schaffen werden, weder auf mittlere noch auf lange Frist. Daraus folgt, dass die Schweiz nun in eine neue Art der politischen Auseinandersetzung eingetreten ist, die auch zu ihrer Demokratie gehört.

Um diese Demokratie dreht sich der fünfte Punkt. Hier ist die Schweiz nicht auf der Höhe ihres Rufs. Im Gegensatz zu ihren unmittelbaren Nachbarn hat sie willentlich einen Dissens in der Sache ausser Acht gelassen, über den es keinen gleichberechtigten Kompromiss geben kann. Während eine ganze Anzahl politischer Parteien in Europa der Europäischen Kommission vorwerfen, dem amerikanischen Druck auf offener Strecke nachgegeben zu haben, hatte die Schweiz nicht einmal den Mut, die Rede des US-Vizepräsidenten J.D. Vance im vergangenen Februar in München zu verurteilen, und das ist noch höflich formuliert. Und was ist zur fehlenden Transparenz beim Kauf unserer «so teuren F-35» zu sagen? Wo wäre die direkte Demokratie angemessener als hier? Wo sie aus gutem Grund angewandt wird, ehrt sie uns als Schweizer citoyens, zum Beispiel wenn es um strategische und internationale Weichenstellungen geht, die das Wort und die Zukunft des Landes in die Pflicht nehmen.

Zum Schluss unsere Identität. Die Schweiz hat einen schweren Schlag erlitten, eine Schlacht verloren. Hat sie die Weitsicht, daraus Schlüsse zu ziehen, ihre Freunde zu erkennen und sich nicht über den Gegner zu täuschen, wie sie es leider in den vergangenen Monaten getan hat? Wird sie imstande sein, den Schritt in Richtung neuer Horizonte zu tun und sich von der «Reduit-Mentalität» zu trennen, die sie nur allzu sehr einengt? Nichts ist unsicherer. Aber eine Gewissheit besteht – die Gewissheit zu wissen, wer wir sind, wo wir uns befinden und wo wir bleiben: In Europa!

Original auf Französisch – Deutsche Übersetzung SGA-ASPE

#Handel #Schweizer Aussenpolitik #Souveränität

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