Das Baltikum ist nur auf der Landkarte eine Randzone Europas. Mit dem russischen Überfall auf die Ukraine sind die drei Kleinstaaten Litauen, Estland und Lettland zu einem wichtigen Schauplatz im Ringen um die Neupositionierung unseres Kontinents gegenüber Russland geworden.
Die Mitte Europas befindet sich in Purnuškės, 26 Kilometer nördlich der litauischen Hauptstadt Vilnius. So zumindest bestimmte es im Jahre 1989 das französische Institut Géographique National (IGN). Anlässlich des EU-Beitritts Litauens im Jahr 2004 wurde an diesem Ort ein Denkmal errichtet: eine weisse Granitsäule gekrönt von einem Sternenkranz. Die Sterne verweisen auf die Europäische Union und unterstreichen Litauens Zugehörigkeit zur europäischen Gemeinschaft.
Noch vor wenigen Jahren hätten viele Litauen wohl als Randzone Europas betrachtet. Wie auch seine Nachbarn Lettland und Estland galt das Land lange als zu klein und „unbedeutend“, um auf europäischer Bühne als relevanter Akteur wahrgenommen zu werden. Doch das hat sich in jüngster Zeit grundlegend gewandelt – nicht zuletzt wegen der wachsenden geopolitischen Bedeutung der Ostseeregion. Dabei zählen die drei baltischen Staaten schon lange zu den überzeugtesten Verfechtern der Europäischen Union. So verzeichnet Litauen in mitgliederweiten Umfragen regelmässig die höchsten Zustimmungswerte zur EU-Mitgliedschaft. Selbst ein Regierungswechsel im Herbst 2024 – von einer konservativen zu einer sozialdemokratischen Koalition – hatte keinen wesentlichen Einfluss auf die aussenpolitische Strategie des Landes. Auch in Lettland und Estland herrscht parteiübergreifender Konsens in Bezug auf die EU-Mitgliedschaft, die westliche Orientierung und den Umgang mit Russland. Während viele europäische Länder mit erstarkenden EU-skeptischen Kräften ringen oder Regierungen haben, die Sympathien für die russische Regierung erkennen lassen, bleibt das Baltikum davon weitgehend unberührt.
Warum ist das so?
Die Geschichte der baltischen Staaten ist von Jahrhunderten der Fremdherrschaft geprägt. Das Gebiet des heutigen Estlands und Lettlands stand ab dem 13. Jahrhundert unter wechselnder Kontrolle benachbarter Mächte. Zunächst herrschte der Deutsche Orden über das Gebiet, dessen Ziel es unter anderem war, die Region zu christianisieren. Später fiel das Gebiet an Schweden und schliesslich im 18. Jahrhundert an das Russische Zarenreich. Litauen hingegen war über Jahrhunderte ein eigenständiges Grossfürstentum und bildete später gemeinsam mit Polen die polnisch-litauische Adelsrepublik. Erst im Zuge der Teilung Polens geriet auch das Gebiet des heutigen Litauens im 18. Jahrhundert unter russische Herrschaft.
Erst nach dem Ersten Weltkrieg konnten die baltischen Staaten ihre staatliche Unabhängigkeit erlangen. Diese währte jedoch nur gut zwei Jahrzehnte, ehe sie 1940 von der Sowjetunion annektiert und als Unionsrepubliken vollständig in die UdSSR integriert wurden. Im Zweiten Weltkrieg wurde das Baltikum dann von Deutschland besetzt, bevor es von der Sowjetunion militärisch zurückerobert und wieder eingegliedert wurde. Die baltischen Staaten verloren dadurch ihre staatliche Souveränität de jure, auch wenn sie von vielen westlichen Staaten – so auch der Schweiz – völkerrechtlich als besetzt betrachtet wurden. Im Gegensatz dazu blieben Staaten wie beispielweise die damalige Tschechoslowakei oder Ungarn formal souverän. Sie gehörten dem Warschauer Pakt an und standen politisch wie militärisch unter starkem Einfluss der Sowjetunion, ohne jedoch Teil der UdSSR zu sein. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion erlebten diese Länder einen Systemwechsel innerhalb ihrer bestehenden staatlichen Strukturen. Im Baltikum hingegen musste die staatliche Souveränität wiederhergestellt werden.
Seither hat sich im kollektiven Gedächtnis das duale Weltverständnis des Kalten Krieges fortgesetzt: Man gehört zur russischen Einflusssphäre oder zum Westen. Nach der erneuten Unabhängigkeit anfangs der 1990er-Jahre war für die drei Länder klar: Eine Rückkehr in den russischen Einflussbereich kommt nicht infrage. Die Westintegration – politisch, wirtschaftlich und militärisch – wurde daher zum wichtigsten aussenpolitischen Ziel erklärt und 2004 mit dem EU- und NATO-Beitritt zumindest formell erreicht. Trotz grosser sprachlicher, kultureller und gesellschaftlicher Unterschiede eint die drei Staaten das Bewusstsein darüber, dass sie ihre Sicherheit und Freiheit nur im Schulterschluss mit Gleichgesinnten wahren können. Wie auch sonst könnte beispielsweise Lettland mit einer Bevölkerung von 1.8 Millionen Menschen ein Staatsgebiet verteidigen, dass um einen Drittel grösser ist als das der Schweiz? Ihre pro-europäische Haltung ist demnach pragmatisch motiviert durch das starke Bedürfnis nach Selbstbestimmung, das seine Wurzeln in der historischen Erfahrung jahrhundertelanger Fremdherrschaft hat.
Folglich schliessen sich die drei baltischen Staaten aussenpolitisch gerne zusammen, um sich dadurch mehr Gehör zu verschaffen. So haben sie bereits lange vor dem russischen Einmarsch in die Ukraine vor Russland gewarnt. Während der Westen die Strategie der wirtschaftlichen Einbindung Russlands wählte, wollten sich die baltischen Staaten solcher Vorstellungen nie hingeben.
Als die russische Regierung im Jahr 2021 forderte, die NATO solle ihre militärische Präsenz in Ländern aufgeben, die nach 1997 beigetreten sind, wurde dies im Baltikum als Bestätigung der fortbestehenden Expansionsgelüste Moskaus verstanden. Seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine herrscht in Lettland, Estland und Litauen daher weitgehend Einigkeit darüber, dass ein russischer Sieg nur den Auftakt einer russischen Expansion Richtung Westen markieren würde. Um zu verhindern, dass der nächste Versuch im Baltikum stattfindet, setzen die drei Staaten alles daran, die Ukraine umfassend zu unterstützen. Getragen von dieser Überzeugung gehören sie – gemessen an ihrer Wirtschaftsleistung – zu den fünf grössten Unterstützern der Ukraine.
Aus Sicht der baltischen Staaten wird auf dem ukrainischen Schlachtfeld demnach auch die baltische Unabhängigkeit verteidigt und entsprechend stark ist die Solidarität mit der Ukraine spürbar. So gehört die Ukraine längst zum Alltagsbild: vor öffentlichen Gebäuden wehen ukrainische Flaggen, Busse sind mit Aufklebern in den Nationalfarben versehen und nachts werden gerne auch mal Häuser oder Monumente in blau-gelbes Licht getaucht. Als symbolischer Akt wurde in Riga die Strasse, an der die Russische Botschaft liegt, kurzerhand umbenannt in „Ukrainas neatkarības iela“, was frei übersetzt so viel heisst wie „Unabhängigkeit der Ukraine-Strasse“. Vilnius und Tallinn machten es Riga gleich, wodurch die Russische Botschaft in Litauen an der „Helden der Ukraine-Strasse“ liegt und in Estland am „Ukraine-Platz“ steht.
Diese starke Reaktion und die klare Positionierung der baltischen Staaten sind nicht nur mit der geopolitischen Situation, der Geschichte und dem Krieg in der Ukraine zu erklären. Vielmehr sehen sich Estland, Lettland und Litauen seit Jahren einer hybriden Kriegsführung ausgesetzt, und zwar in einer Kontinuität, die aller Wahrscheinlichkeit nach einer Strategie folgt. So wurde Estland, das als digitaler Vorreiter in Europa gilt, bereits 2007 Ziel eines gross angelegten russischen Cyberangriffs, der Regierung, Banken und Medien gleichzeitig lahmlegte. Auch in jüngerer Zeit berichten die baltischen Staaten wiederholt von Cyberangriffen und GPS-Signalausfällen im Luftraum. Darüber hinaus verdichten sich Hinweise auf russische Sabotageaktionen im Ostseeraum, wo bislang bereits mehrere Unterseekabel der Anrainerstaaten beschädigt wurden. Natürlich ist die Urheberschaft solcher Angriffe schwer eindeutig zu klären. Und selbst wenn ein Verursacher identifiziert werden kann, ist die tatsächliche Absicht oft nicht nachweisbar. Wie soll man auch zweifelsfrei belegen, dass ein Anker absichtlich gesenkt wurde, um ein Unterseekabel zu durchtrennen – und es sich nicht bloss um ein Versehen oder Unfall handelt? Dennoch illustriert die Gesamtheit aller Vorfälle Putins Vorstellung eines umfassenden Konflikts mit dem Westen, wodurch der offene Krieg auf ukrainischem Boden mit verdeckter, hybrider Kriegsführung im baltischen Raum (und anderswo) ergänzt wird.
Die Jahrzehnte sowjetischer Fremdherrschaft haben auch gesellschaftliche Bruchlinien hinterlassen. Innerhalb der Sowjetunion wurden viele Russen gezielt in nichtrussische Regionen umgesiedelt. Während Litauen davon weniger betroffen war, machte die Gruppe der russischen Zuwanderer in Lettland und Estland zeitweise über 30 Prozent der Bevölkerung aus.
Nach der Wiedererlangung ihrer Unabhängigkeit mussten Litauen, Lettland und Estland entscheiden, welchen rechtlichen Status diese Zugewanderten erhalten sollen. Litauen entschied sich dafür, allen dauerhaft im Land lebenden Menschen die Staatsbürgerschaft zu verleihen. Lettland und Estland hingegen vergaben sie nur an Personen, die selbst – oder deren Vorfahren – bereits vor 1940 die Staatsbürgerschaft besessen hatten. Wer keine Staatsbürgerschaft beantragen wollte oder konnte, erhielt ein spezielles Reisedokument in grauer Farbe und wurde somit zum «grey passport holder». Während diese Gruppe anfänglich einen Drittel der Bevölkerung Lettlands und Estlands stellte, gibt es heute nur noch 190’000 (Lettland) resp. 60’000 (Estland) Menschen mit diesem Status. Der Rückgang ist vor allem auf das Sterben älterer Generationen zurückzuführen, sowie darauf, dass Nachkommen dieser grey passport holders inzwischen die jeweilige Staatsbürgerschaft automatisch erhalten. Trotz gesellschaftlicher Fortschritte bleiben Menschen mit grauem Pass bis heute weitgehend von der Mehrheitsgesellschaft ausgeschlossen und verfügen nicht über dieselben Rechte wie Staatsangehörige.
Auch wenn die Gruppe der grey passport holders inzwischen überschaubar ist, macht die gesamte russischsprachige Minderheit in Lettland und Estland etwa 25 % der Bevölkerung aus. Natürlich handelt es sich bei dieser Minderheit nicht um eine homogene Gruppe. Insbesondere zwischen den Generationen zeigen sich deutliche Unterschiede: Während jüngere Russischsprachige gut integriert sind und keine nostalgischen Gefühle mit der Zeit vor der Unabhängigkeit verbinden, gibt es unter den älteren Generationen Menschen, die Sympathien für Putins Politik hegen. Dies führt dazu, dass die russischsprachige Minderheit als Projektionsfläche für Misstrauen dient und häufig pauschal als potenzielles Risiko, als eine Art innenpolitisches Sicherheitsproblem wahrgenommen wird.
Seit dem Ausbruch des Krieges hat sich zudem ein deutlicher innenpolitischer Kurswechsel vollzogen: Weg vom passiven «Nebeneinander», hin zu aktiver Integration und sprachlicher Anpassung. Was lange möglich war – in Lettland oder Estland ausschliesslich Russisch zu sprechen – soll nun der Vergangenheit angehören. Dementsprechend wurde Russisch, bislang zweite Fremdsprache an öffentlichen Schulen, aus den Lehrplänen entfernt und durch Sprachen von EU-Staaten ersetzt. Doch es bleibt nicht bei der Sprache: Jeglicher russische Einfluss – ob direkt von Russland oder von Menschen, die mit Russland assoziiert werden – soll grundsätzlich unterbunden werden. In diesem Zusammenhang hat Estland eine Wahlrechtsreform verabschiedet, die Drittstaatsangehörigen das Wahlrecht bei Kommunalwahlen entzieht. Auch die grey passport holders sind davon betroffen und dürfen somit im Herbst 2025 zum letzten Mal wählen. Besonders in den nordöstlichen Wahlbezirken des Landes dürfte dieser Ausschluss das Wahlergebnis spürbar beeinflussen.
Diese Entwicklungen spiegeln die derzeitige gesellschaftliche und politische Stimmung wider. Auch wenn der russischsprachigen Minderheit schon immer mit Ablehnung begegnet wurde, entsteht zunehmend der Eindruck, dass der Geduldsfaden gerissen ist und dass nun endgültig ein Schlussstrich unter die sowjetisch geprägte Vergangenheit gezogen werden soll.
Vielleicht liegt die Mitte Europas also nicht nur geografisch in Litauen, sondern auch sinnbildlich im Baltikum. Dort, wo Europa mit sich selbst konfrontiert ist, in seiner Vielfalt und mit seinen Widersprüchen. Wo Ost und West noch immer aufeinandertreffen und sich Europa immer wieder seiner Geschichte und Zukunft stellen muss.
Ronja Wirz ist unserer Leserschaft keine Unbekannte: Sie hat 2023 und 2024 tatkräftig an der Chronik „Schweiz im Sicherheitsrat“ mitgearbeitet. Im Sommer 2024 schloss sie ihren Master in Politikwissenschaft an der Universität Zürich ab. Anschliessend arbeitete sie zehn Monate als Praktikantin an der Schweizerischen Botschaft in Lettland, Estland und Litauen mit Sitz in Riga.
Kurz und kräftig. Die wöchentliche Dosis Aussenpolitik von foraus, der SGA und Caritas. Heute steht Kolumbien im Fokus. Guerillagewalt, Millionen Geflüchtete aus Venezuela und der Kollaps der Darién-Route machen das Land zum Brennpunkt der lateinamerikanischen Migrationskrise. Nr. 486 | 23.09.2025
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