Am Tag der Aussenpolitik in Bern hat der frühere deutsche Aussenminister Joschka Fischer mit Nachdruck gefordert, dass Europa fähig werde, sich selber zu verteidigen. Auch die Schweiz könne sich nicht mehr auf den Schutz der USA verlassen. Konkret wurde über eine engere Kooperation mit der Nato diskutiert. Zur Sicherheitspolitik gehört nach Ansicht mehrerer Referenten auch eine verbindlichere Partnerschaft mit dem globalen Süden – entgegen dem verheerenden Trend zur Reduktion der Hilfe.
Die neue Weltordnung oder -unordnung – Rückkehr von Krieg und Machtpolitik, nationaler Egoismus und humanitäre Not – mit ihren Konsequenzen für die Schweiz war das verbindende Thema am diesjährigen Tag der Aussenpolitik, den die SGA-ASPE zusammen mit dem Forum Aussenpolitik (foraus) und der Europäischen Bewegung Schweiz in Bern veranstaltet hat. (Dem positiven Schritt in der Europapolitik, den die am Vortag eröffnete Vernehmlassung zu den Verträgen mit der EU bedeutet, ist am 2. Juli ein Abend in Zürich gewidmet.)
Hauptredner im ersten Teil der Veranstaltung und Gesprächspartner des Publizisten Roger de Weck war Joschka Fischer, von 1998 bis 2005 deutscher Aussenminister und Vizekanzler, weiterhin eine publizistisch-politische Stimme wie jüngst mit dem Buch «Die Kriege der Gegenwart und der Beginn einer neuen Weltordnung». Für den 1948 geborenen Grünen-Politiker war die Präsenz amerikanischer Truppen in Deutschland stets etwas Selbstverständliches – und die Voraussetzung für Westeuropas friedliche Entwicklung. Diese Schutzgarantie gelte nun nicht mehr, sagte Fischer, oder sei unsicher geworden. Auch über die Zeit nach Trumps Präsidentschaft dürfe man sich keine Illusionen machen, da im Binnenamerika besonders seit dem teuren und «verlorenen» Irakkrieg ein tiefer Verdruss über die weltpolitische Rolle der USA herrsche. Gleichzeitig hat der russische Präsident Putin den Krieg zurückgebracht. Mit dem Ziel, sein Land wieder zur Weltmacht zu machen, greife er über die Ukraine hinaus das demokratische Europa an. Wenn dieses nicht unter russische Dominanz geraten wolle, müsse es zur technologischen und militärischen, auch nuklear abschreckungsfähigen Macht werden, betonte Fischer und meinte damit nicht allein die EU.
Auch die Schweiz könne ihre Sicherheit heute noch weniger als im Kalten Krieg allein gewährleisten. Und «uns tut keiner was» sei ein gefährlicher Irrglaube. Fischer sprach von der «Vernunftnation», die sich traditionell zu Recht aus Konflikten herausgehalten habe, aber auch vom «nichterklärten Nato-Mitglied», das die neuen Realitäten anerkennen sollte. Sie wäre bei der gemeinsamen Verteidigung willkommen und brauche dafür auch nicht der Union beizutreten – «wir haben Euroskeptiker genug in der EU». Auch den Deutschen, die nach 1945 zu Pazifisten geworden seien, falle die Umstellung schwer, doch die Notwendigkeit hätten nun alle mit Ausnahme der AfD begriffen. «Merz macht es gut», bescheinigte Fischer dem neuen Bundeskanzler und erwähnte zudem das entscheidende Ja der Grünen zur zusätzlichen Verschuldung für Rüstungsprojekte. Der Gast war vor der Veranstaltung in eine Diskussion mit SVP-Politikern gezogen worden und stiess auf eine unglaubliche «Knieweichheit» gegenüber Russland.
Europa habe durchaus das Potenzial, sich zu verteidigen, namentlich dank Bildung und Forschung; die wichtigsten Ressourcen seien aber die Werte: Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit. Angesprochen auf Anliegen wie Klima- und Sozialpolitik meinte Fischer lakonisch: «Sicherheit geht vor.» Wie er sich das Verhältnis der künftigen Mächte untereinander vorstellt, führte er nicht weiter aus, ausser dass er das Muster des 19. Jahrhunderts ablehnte. Grosse Gefahren auch für Europa sieht er ferner im Nahen Osten, zumal Netanyahu den humanitären Charakter Israels und damit einen Faktor von dessen Sicherheit infrage stelle. Im globalen Süden werde China den amerikanischen Rückzug zu nutzen wissen; Europa müsste besonders auf Afrika zugehen und sich öffnen.
In einem von Priscilla Imboden, «Republik»-Redaktorin, geleiteten Podiumsgespräch stiess Fischers Grundthese kaum auf Widerspruch. Joachim Adler, Chef Verteidigungspolitik im Staatssekretariat für Sicherheitspolitik, sieht zwar die konventionelle, nicht aber die nukleare Abschreckung durch die USA infrage gestellt. Erörtert wurde im Weiteren kein Nato-Beitritt der Schweiz, sondern die Intensivierung der Zusammenarbeit. Nach Adler soll diese die Schweiz unmittelbar stärken, sie in die Lage versetzen, nach einem Angriff mit der Allianz zusammen zu handeln, und auch einen Beitrag der Schweiz enthalten. Kooperation soll also eine Unterstützung im Notfall wahrscheinlicher machen. Die Neutralitätsinitiative der SVP verkenne, wie viel solche Vorbereitung notwendig sei. Die Schweiz beteiligt sich bereits auch an zwei Verteidigungsprojekten der EU. Beim Verständnis, was ein die Neutralität hinfällig machender «Angriff» sei, will sich das VBS nach Adler an der Absicht der betreffenden Macht und am Schadensausmass, nicht an den eingesetzten Mitteln wie etwa Panzern orientieren.
Katja Gentinetta, politische Philosophin und Verfasserin des Kommissionsberichts zur Sicherheitspolitik von 2024, betonte, dass die Schweiz «nachrüsten» müsse. Das Milizsystem – mit Wehrpflicht für Männer und Frauen – sei eine Chance. Die Schweiz könne bei bestimmten Risiken, etwa im Luftkorridor von Ungarn nach Westen, sehr wohl eine gewisse Rolle spielen. Beim Verhältnis zur Nato geht es besonders um die Interoperabilität, ein Zusammenpassen der Armeen einschliesslich der Kommandostrukturen. Wichtig sei im Weiteren die Lockerung der Regelung für Waffenexporte. Eingeschlossen in die Betrachtung ist die hybride Kriegführung, die spezifische Antworten verlangt. Damit die Neutralität vom Ausland akzeptiert werde, habe die Schweiz auch Solidarität zu zeigen, hielt Gentinetta fest.
Der Präsident der SGA, SP-Nationalrat Jon Pult, betrachtet seinerseits die politische Idee der Nato als tot. Er wandte sich nicht gegen eine Nachrüstung, plädierte aber dafür, dass sich die Schweiz vor allem dort engagiere, wo sie entscheidende Fähigkeiten und den Rückhalt der Bevölkerung habe: mit Beiträgen zu Europas Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit sowie mit verstärkter Entwicklungszusammenarbeit. Ausserdem sei der gesellschaftlichen Widerstandskraft, dem inneren Zusammenhalt Sorge zu tragen, namentlich in der Bildungs-, der Kultur- und der Medienpolitik. Wenn die Bilateralen III unter Dach seien, sollte Bern mit der EU über Kooperation in der Sicherheitspolitik reden.
Die Notwendigkeit des Engagements im globalen Süden ergibt sich schon aus dem Interesse an Stabilität. Der «humanitäre Notfall», Ausgangspunkt für den zweiten Teil des Tages, kommt als unmittelbarer Grund dazu. Markus Mugglin, Mitglied des SGA-Vorstands, skizzierte als Moderator, wie sich die Situation seit Jahren verschlechtert: Die Zahl der Hungerleidenden ist wieder um etwa 150 Millionen Menschen gestiegen, zahlreiche Entwicklungsländer sind überschuldet, wichtige Geberländer haben ihre Hilfe drastisch gekürzt, nur Norwegen hat sie erhöht. Nicole Ruder, Chefin der Abteilung Multilaterales der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza), führte aus, wie die humanitären Bedürfnisse vor allem infolge von Konflikten rasant zugenommen haben, sodass die Abnahme der Mittel zu einer «radikalen Priorisierung», konkret zur krassen Unterversorgung beispielsweise von Flüchtlingen, und zu Todesopfern führt. Nicht weniger dramatische Folgen habe längerfristig die Reduktion der Entwicklungszusammenarbeit. Den Schnitt, den die USA im Frühjahr vornahmen, könne angesichts des Umfangs der amerikanischen Leistungen niemand ausgleichen.
Ruder warnte vor Vorstellungen, man könne über eine Disruption zu einer radikalen Erneuerung des internationalen Entwicklungssystems gelangen, sieht aber Chancen für evolutive Reformen. Dazu gehören strukturelle Vereinfachungen, die Lokalisierung (mehr Verantwortung der Betroffenen) und die klarere Konzentration auf die Ärmsten. In «strategischer Akupunktur» finanziert die Schweiz zum Beispiel eine gemeinsame digitale Plattform für den Zahlungsverkehr internationaler Organisationen, die erhebliche Einsparungen verspricht. Sie verteidigt ferner den (teuren) Standort Genf, weil er eine gute Infrastruktur und besondere Kooperationsmöglichkeiten bietet.
Auch die Deza ist gezwungen, mit weniger Geld zu arbeiten und nach Verbesserungsmöglichkeiten zu suchen. Wo sie sich zurückzieht, macht sie es schonend, wie Ruder zu verstehen gab. Über humanitäre Hilfe – ein «menschlicher Imperativ» – und Entwicklungsprojekte hinaus würden sich die betroffenen Länder von der Schweiz eine kohärentere Politik wünschen, das heisst etwa eine Handels-, Steuer-, Rohstoffhandels- und Finanzplatzpolitik, die den Interessen der schwächeren Länder Rechnung trägt.
In der Diskussion suchte man nach Ansätzen, die Unterstützung für eine wirksame Entwicklungspolitik wieder zu stärken. Sabin Bieri, Direktorin des Zentrums für Entwicklung und Umwelt der Universität Bern, sieht im globalen Süden den Partner, um Lösungen für gemeinsame Probleme zu erarbeiten. Die Ziele nachhaltiger Entwicklung (SDG) und die Agenda 2030 könnten als Vision oder Basis dienen, sind laut Ruder indes im Süden besser verankert als im Norden und werden von Präsident Trump schlicht abgelehnt. Kristina Lanz, Vertreterin der Alliance Sud, möchte den Kampf um zusätzliche Mittel für Entwicklungshilfe – «ein Paradebeispiel für unsere Werte» – nicht aufgeben und rechnete vor, wieviel Geld frei würde, wenn die Schuldenquote auch nur teilweise wieder dem höheren Niveau bei Einführung der Schuldenbremse angenähert würde. Mehrere Votanten wünschten sich eine gute Erklärung der auf systemische Veränderungen ausgerichteten Entwicklungsarbeit, eine politische Führung, die stolz für die schweizerischen Leistungen einsteht und eine Sicht, die nicht nur gut messbare Resultate erfasst.
Den realen Veränderungen und Gefahren in der Welt, resümierte Jon Pult in seinem Schlusswort, sei auch die Schweiz ausgesetzt. Die SGA habe dazu beizutragen, dass Bürgerinnen und Bürger adäquate Entscheide treffen können. Mit Blick auf den globalen Süden sollte das Land mehr tun für eine menschlichere Welt, für Stabilität im Interesse aller und für ihren eigenen Ruf. Die SGA will ihrerseits in Grundfragen Haltung zeigen und hat an ihrer Generalversammlung eine Resolution verabschiedet, die den Bundesrat angesichts der flagranten Verletzung des humanitären Völkerrechts in den gegenwärtigen Kriegshandlungen dringend zu einem verstärkten Engagement für die Respektierung dieser Grundsätze und Regeln aufruft.
Kurz und Kräftig. Die wöchentliche Dosis Aussenpolitik von foraus, der SGA und Caritas. Heute steht der neu entbrannte Grenzkonflikt zwischen Thailand und Kambodscha im Fokus. Ende Mai eskalierten die jahrzehntelang anhaltenden Spannungen, weshalb die Nachbarländer seither Druck aufeinander ausüben. Nr. 482 | 15.07.2025
Neue Beiträge von Joëlle Kuntz (La neutralité, le monument aux Suisses jamais morts) und Markus Mugglin (Schweiz – Europäische Union: Eine Chronologie der Verhandlungen) sowie von Martin Dahinden und Peter Hug (Sicherheitspolitik der Schweiz neu denken - aber wie?) Livre (F), Book (E), Buch (D)
Zu den BeiträgenDas Schweizer Mandat im UNO-Sicherheitsrat (2023 und 2024) fiel in turbulente Zeiten, der Rat hatte Schwierigkeiten, in den grossen Fragen Entscheide zu fällen. Jeden Samstag haben wir das Ratsgeschehen und die Haltung der Schweiz zusammengefasst.
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