Lesetipp

Die Erfahrung und das Neue in der Aussenpolitik

Diplomaten, Politiker und Professoren diskutierten von 1961 bis 1985 in einer Arbeitsgruppe «Historische Standortbestimmung» über Perspektiven der schweizerischen Aussen- und Europapolitik. Die Protokolle geben Aufschluss über Optionen und Meinungen mit Bezug auf das Verhältnis zur EWG und zur UNO, die Neutralität, die Menschenrechtspolitik und andere Bereiche der Aussenbeziehungen.

Als der Bundesrat im Dezember 1961 bei der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG, heute EU) ein Gesuch um Assoziation einreichte, beauftragte er 14 Arbeitsgruppen mit der Abklärung einzelner Aspekte einer solchen, erst grob umrissenen Teilintegration. Die Gruppe «Historische Standortbestimmung» hatte eine Sonderstellung, da sie ein offenes Themenfeld vor sich hatte, nicht zu gemeinsamen Schlüssen kommen musste und bis 1985 fortbestand. Die allmählich wechselnden Mitglieder und die Referenten kamen vor allem aus Diplomatie und Verwaltung, Parlament und Geschichtswissenschaft. Die Leitung hatte fast die ganze Zeit Albert Weitnauer inne, anfangs Handelsdelegierter, zuletzt EDA-Staatssekretär. Die von Sacha Zala geleitete Forschungsstelle Diplomatische Dokumente der Schweiz (Dodis) hat nun 12 der 47 ausführlichen Sitzungsprotokolle in einem Band und die übrigen online zugänglich gemacht (auf Letztere wird hier nicht weiter eingegangen).

Hilft die Historie?

Die Publikation trägt den Titel «Der Historiker als Experte». Doch das Gremium sollte nicht zuletzt auch dazu dienen, die Expertise und die Sicht der offiziellen Diplomatie in weitere Kreise zu tragen, zumal auch Presseleute wie Willy Bretscher, NZZ-Chefredaktor (und FDP-Nationalrat), zu dem vertraulichen Kreis gehörten. Die Förderung des aussenpolitischen Verständnisses in der Öffentlichkeit war übrigens auch einmal Thema. Von den verwaltungsexternen Mittgliedern erwartete man kaum direkt «Lehren der Geschichte», sondern eher das distanzierte Urteil politisch kundiger Intellektueller. Dennoch fragt sich, ob einerseits bei grosser Vertrautheit mit der Vergangenheit der Blick für das Andere, Neue der Gegenwart sowie für Unerwartetes offenbleibe und ob anderseits bei Betonung des historischen Wandels und der Gestaltbarkeit auch die Kontinuität beachtet werde.

Europapolitische Quadratur des Kreises

Die europäische Integration war und ist in ihrer Art präzedenzlos. Die schweizerischen Reaktionen, wie sie sich auch in der Arbeitsgruppe zeigten, konnten wenn nicht etwas ratlos, so doch im Grunde widersprüchlich erscheinen. Das Interesse an einem Zusammenschluss war klar. Speziell angesichts der damaligen amerikanischen Truppenreduktion vermisste etwa Korpskommandant Ernst Uhlmann 1970 eine gemeinsame militärische «Selbstermannung Westeuropas»; Walther Hofer, Professor und SVP-Nationalrat, postulierte 1984 gar eine «Integration der Völker». Auch Bedenken wegen einer wirtschaftlichen und kulturellen Dominanz der USA («américanisation», Jacques Freymond 1970) sprachen für ein starkes Europa. Doch zur Beteiligung an dem politischen Projekt war man nicht bereit; die Neutralität galt als Hindernis wie auch als gute Warte- oder allfällige Rückzugsposition. Es sei nicht unsere Aufgabe, «stellvertretend den Westen zu retten», sagte der Historiker Herbert Lüthy 1970 und plädierte «eher für eine minimalistische als für eine maximalistische, d.h eine Satellitenstaats-Lösung». 1984 nannte er als Grundproblem der Schweiz, «stets nach Möglichkeit mit in dem Ding zu sein, ohne politisch mit darin zu sein. Auch die Quadratur des Zirkels gehört zur diplomatischen Routine».

Jedenfalls überwog Zufriedenheit, als das Problem einer drohenden Isolation  beim Beitritt zur EWG 1972 mit geregeltem Freihandel «apolitisch» gelöst werden konnte. Es waren vor allem die in Brüssel bewanderten Praktiker, die in jener Zeit wie auch später darauf hinwiesen, dass die europäische Entwicklung trotz Krisen voranschreite und unumkehrbar sei. Es sei wichtig, «dass wir die Integrationsfähigkeit und -willigkeit der Gemeinschaft ja nicht unterschätzen», mahnte Jakob Kellenberger, Chef des Integrationsbüros, 1984. Carlo Jagmetti, Missionschef in Brüssel, folgerte, dass kleine, pragmatische Schritte «in zehn bis zwanzig Jahren vielleicht nicht mehr» genügen würden. Schon wenige Jahre später stand mit dem EWR ein grosser Schritt zur Diskussion.

Neutralität und Beteiligung

Die Neutralität war generell ein Fixpunkt im aussenpolitischen Diskurs. Sie sei «im Grunde dasselbe wie Unabhängigkeit», sagte Weitnauer 1961, und «kein relativer Begriff». Hofer wies 1972 auf ihre «physiognomische [imagebildende] Bedeutung» hin. «Les mythes sont des réalités», stellte der liberale Ständerat Olivier Reverdin fest. Damals sah man in der Ost-West-Konstellation auch Spielräume für die Schweiz. Der Schriftsteller und Literaturwissenschafter Guido Calgari sprach schon 1969 von einer «neutralité active, participante, disponible».

An jener Sitzung, kurz bevor der Bundesrat im Juni 1969 seinen ersten Bericht dazu veröffentlichte, zogen einige Teilnehmer vorsichtig einen Beitritt zur UNO in Betracht. Allerdings ein Neutralitätsvorbehalt als selbstverständlich, obwohl dies genau genommen unrealistisch war. Der Chef der zuständigen EDA-Abteilung, Ernesto Thalmann, fand gleichzeitig, die Schweiz sollte ihre Neutralität «nicht überstrapazieren». «Ohne einen gesunden Schuss Zynismus kommt man in der Weltpolitik nicht durch.» Seine nüchterne Analyse der internationalen Lage schloss aber die Überzeugung nicht aus, dass «ein geschichtlicher Trend zu einer universellen Organisation der Völkergemeinschaft», zu vermehrter Multilateralität und zu einer «weltweiten Schicksalsgemeinschaft» bestehe. Ein halbes Jahrhundert später mag man sagen, eine solche «Evolution» sei offenkundig umkehrbar – oder aber auch den heutigen Bruch als blosse Phase betrachten.

Ein Testfall der Kooperation war in den 1970er Jahren die sowjetische Initiative für eine europäische Sicherheitskonferenz, die spätere KSZE und heutige OSZE. Erfahrung gebot Skepsis. Auch in der Arbeitsgruppe wurde 1973 vor der hegemonialen Absicht Moskaus («Finnlandisierung» Europas) gewarnt. Indessen entwickelte sich das Projekt «mehr und mehr zu einer wirksamen Gegenoffensive des Westens» (Thalmann). Der Leiter der Schweizer Delegation, Rudolf Bindschedler, fand, «die Erweiterung des individuellen Freiheitsraumes (z.B. im Reiseverkehr)» müsse zu einem Hauptgegenstand gemacht werden, und berichtete von der starken Stellung der (zusammenarbeitenden) Neutralen. Sein Nachfolger Edouard Brunner sprach 1983 von einer schweizerischen «position de flèche dans le domaine des droits de l’homme ». Auch dank der vermittelnden Diplomatie der Neutralen wurde in der Schlussakte von Helsinki (1975) faktisch anerkannt, dass die Menschenrechte keine rein innerstaatliche Angelegenheit sind.

Zwiespalt vor der Öffentlichkeit

Trotz Erfolgen im KSZE-Prozess begegneten 1979 in der Arbeitsgruppe EDA-interne wie externe Mitglieder einer systematischen Menschenrechtspolitik mit einigem Argwohn – während sie der neue Aussenminister Pierre Aubert just zu seinem besonderen Anliegen machte. Alt Bundesrat Pierre Graber (SP, wie Aubert) bezeichnete Jimmy Carter, der eine solche Politik offensiv lanciert hatte, als «l’un des plus mauvais présidents» der USA; Curt Gasteyger, Professor für Sicherheitspolitik, beurteilte das amerikanische Vorgehen als kontraproduktiv. Mehrere Votanten wiesen in der Arbeitsgruppe auf das unterschiedliche Menschenrechtsverständnis in Westen, Osten und Süden hin. Für die Schweizer Aussenpolitik befürchtete Paul Jolles, Staatssekretär für Aussenwirtschaft, eine «Emotionalisierung», und alt Botschafter Max Troendle forderte: «Die Regierung muss auch den Mut haben, der öffentlichen Meinung zu widerstehen.»

Kritik richtete sich generell gegen die Häufung bundesrätlicher Erklärungen zu Ereignissen in der Welt, gegen «eine Aussenpolitik des verbalen Kraftaktes» (Weitnauer 1983, nach seinem von Aubert herbeigeführten Rücktritt) und gegen eine «hektische Protestdiplomatie, die dann zu grotesken Symmetriezwängen führt» (Lüthy). Damals hatte der Bundesrat gerade erstmals einen Akt eines anderen Staats «verurteilt», nämlich die Intervention der USA in der Karibikinsel Grenada. Der Trend zu öffentlichen Stellungnahmen liess sich nicht bremsen.

So interessant es ist, die vertraulichen Diskussionen nachzulesen – die meist wohletablierten Historiker äusserten sich fast durchwegs innerhalb der üblichen aussenpolitischen Bandbreite. Insofern lagen sie wohl richtig. Doch Bernard Béguin, Chefredaktor des Journal de Genève, sagte einmal: «Ce que vous dites est si juste que le contraire mériterait d’être examiné

 

 

 

 

 

 

 

 

#Schweiz-EU #Schweizer Aussenpolitik

Das Buch

Sacha Zala, Yves Steiner, Annina Clavadetscher und Fabien Dubois (Hg.): Der Historiker als Experte. Die Arbeitsgruppe Historische Standortbestimmung 1961-1985. Quaderni di Dodis 23. Bern 2025. 382 S. Bestellungen und Gratis-Download: dodis.ch.

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Kurz und kräftig. Die wöchentliche Dosis Aussenpolitik von foraus, der SGA und Caritas. Heute steht Kolumbien im Fokus. Guerillagewalt, Millionen Geflüchtete aus Venezuela und der Kollaps der Darién-Route machen das Land zum Brennpunkt der lateinamerikanischen Migrationskrise. Nr. 486 | 23.09.2025

Eine Aussenpolitik für die 
Schweiz im 21. Jahrhundert

Neue Beiträge von Joëlle Kuntz (La neutralité, le monument aux Suisses jamais morts) und Markus Mugglin (Schweiz – Europäische Union: Eine Chronologie der Verhandlungen) sowie von Martin Dahinden und Peter Hug (Sicherheitspolitik der Schweiz neu denken - aber wie?) Livre (F), Book (E), Buch (D)    

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