Artikel

«Due de nid iiknicke, gäu»

Die Sicherung des Lohnniveaus gegenüber der europäischen Konkurrenz auf dem Heimmarkt – der „Lohnschutz“ – ist ein wichtiges Element des neuen Vertrags mit der EU. Adrian Wüthrich, Präsident des Gewerkschaftsdachverbands TravailSuisse, sagt, wie die innenpolitische Einigung darüber zustande gekommen ist. Wüthrich begleitet die Gespräche seit 2018 und ist Mitglied im „Sounding Board“ des EDA zu den Bilateralen III.

Herr Wüthrich, über den Lohnschutz gegenüber der EU wurde seit Jahren, noch zu Zeiten der Verhandlungen über das gescheiterte Rahmenabkommen, gestritten. Was hatte sich in diesem Frühjahr geändert, als die Sozialpartner und der Bundesrat eine Einigung bekanntgaben?

Als im Dezember 2024 der Abschluss der Verhandlungen mit der EU verkündet wurde, hatten wir für unser Anliegen, den schweizerischen Lohnschutz sicherzustellen, noch nichts in den Fingern. Gespräche liefen seit langem, der Themenkreis war längst definiert. Aber erst jetzt wurde gesetzesscharf zu Papier gebracht, welche innenpolitischen Anpassungen das Stabilisierungsabkommen mit der EU erfordert. Der Bundesrat hat diese 13 Punkte übernommen, ergänzt durch einen Antrag für einen verbesserten Kündigungsschutz für gewerkschaftlich aktive Arbeitnehmendenvertretende, und wird sie dem Parlament vorlegen.

Ist der Lohnschutz so gewährleistet?

Ja, mit diesem Paket von 14 Massnahmen können wir den bestehenden Lohnschutz halten und modernisieren.

Warum blieben die Gespräche zwischen den Sozialpartnern bis zu diesem Jahr ergebnislos?

Wir reden immer. Sozialpartnerschaft bedeutet, dass man miteinander redet. In den Verhandlungen mit der EU zum Rahmenabkommen galt der Lohnschutz als „rote Linie“ der Schweiz, bis Bundesrat Cassis im Sommer 2018 ohne Vorwarnung erklärte, dass auch darüber verhandelt werden solle. Von da an führten wir Gespräche mit den Arbeitgebern. Aber die sagten zu allem nein.

Und die Bundesverwaltung?

Wir waren ohne die Verwaltung unterwegs. Der Bundesrat war weit weg. Das zuständige Staatssekretariat für Wirtschaft, das Seco, hat zugeschaut. Man hat unsere Anliegen…

… keine Übernahme der EU-Spesenregelungen, keine Kürzung der Anmeldefrist, niedrigere Beteiligungsquoten für die Allgemeinverbindlicherklärung von Gesamtarbeitsverträgen…

Man hat das nicht ernst genommen und viel Energie verwendet in die Umsetzung der Verschlechterungen, die im Protokoll 1 zum später abgelehnten Rahmenabkommen vorgesehen waren. Im entsprechenden Dokument, das zur Diskussion stand waren 79 Seiten dafür verwendet worden. Man sagte uns, wir würden dramatisieren, trotz den Verschlechterungen könne man das Lohnschutzniveau halten. Was natürlich nicht geht.

Das war zur Zeit des freisinnigen Wirtschaftsministers Johann Schneider-Ammann, dem als Unternehmer ein besonderes Gespür für die Anliegen der Arbeitnehmerschaft und die Sozialpartnerschaft nachgesagt wurde.

Es war unter seiner Aegide. Es gab in der Verwaltung Leute, die glaubten, das Rahmenabkommen sei ohne die Gewerkschaften und die Linke durchzupauken. Sie wollten einen Blankoscheck von uns. Die Attitüde der Verwaltung war: Sägit doch einfach jo.

Haben Sie das mit Bundesrat Schneider-Ammann aufgenommen?

Ja, mehrfach. Der Bundesrat hatte ihn im Sommer 2018 beauftragt, mit uns zu reden. Er hörte zu und versuchte, mich zu überreden. Aber das 80 Seiten starke Papier über die Änderungen beim Lohnschutz, welches das Seco uns im September darauf präsentieren wollte, enthielt gerade einmal eine Drittelseite „mögliche Kompensationsmassnahmen“. Einen Monat später nahm Bundesrat Schneider-Ammann mich übrigens bei anderer Gelegenheit beiseite und sagte, wir hätten recht gehabt. Der Rahmenvertrag sei schlecht und dürfe nicht angenommen werden.

Was änderte sich danach?

Nach dem Scheitern des Rahmenabkommens lautete der Grundsatz: Die aussenpolitischen Verhandlungen mit der EU und die innenpolitischen über notwendige Anpassungen müssen parallel laufen. Bundesrat Cassis nahm das ernst. Er richtete ein „Sounding Board“ mit den Präsidenten der Kantonsregierungen und der Sozialpartner ein, das in den vergangenen drei Jahren rund alle sechs Wochen über den Stand der Verhandlungen vertraulich informiert wurde. In der Verwaltung waren neue Leute am Ruder.

Im Seco, dem Staatssekretariat für Wirtschaft, war das Staatssekretärin Budliger. 

Ja, und im EDA Staatssekretär Alexandre Fasel. Im Gegensatz zu den Beteuerungen der Regierung zum Rahmenabkommen erklärte Frau Budliger im vergangenen Dezember, das Stabilisierungsabkommen bewirke eine Verschlechterung des Lohnschutzes. Das Seco hatte den Auftrag vom Bundesrat, nach innenpolitischen Kompensationsmassnahmen zu suchen. Die Arbeitgeber waren dazu bereit, wo Verschlechterungen durch das neue Abkommen belegt waren. Das Seco listete diese Verschlechterungen dann in einer sauberen Auslegeordnung auf. Wir durften die ausgehandelten Texte anschauen und uns überzeugen. Auf dieser Grundlage wurden dann die 14 Massnahmen ausgearbeitet, die der Bundesrat übernommen hat. Was wir lange als Möglichkeiten diskutiert hatten, brachte das Seco als konkreten Vorschlag ein. Im Februar und März haben Arbeitgeber und Arbeitnehmer mit dem Staatssekretariat für Wirtschaft fast täglich verhandelt. Die Diskussionen waren zum Teil sehr heftig. Budliger schaffte es, alle am Tisch zu behalten.

Das ist nicht gerade typisch für den Zeitgeist, wo Durchgreifen und Durchboxen Trumpf ist.

Im schweizerischen System bestimmt am Schluss das Volk. Es ist klar, dass ein EU-Abkommen nicht gegen die Gewerkschaften und die Linke durchgesetzt werden kann. Das hat die Regierung gelernt. Im Gegensatz zum Rahmenabkommen, wo uns mit der EU abgesprochene Elemente als „Vorschläge der EU“ verkauft wurden, hat der Bundesrat sich bei den neuen Verhandlungen von Anfang an sauber verhalten. Zudem konnten wir mit der Non-Regression-Klausel ein wichtiges Element in die Verträge aufnehmen. Trotz Dynamisierung…

… «Dynamisierung» heisst, dass die Verträge der Schweiz mit der EU quasi automatisch angepasst werden, wenn die EU ihre Regeln verändert….

Die Schweiz wird zu allem Ja oder Nein sagen können, allerdings um den Preis möglicher EU-Ausgleichsmassnahmen. Aber Verschlechterungen im EU-Lohnschutz werden wir künftig nicht übernehmen müssen, trotz dieser Dynamisierung.   Das kam zustande, weil die vier Präsidenten der Sozialpartnerdachverbände direkt mit EU-Vizepräsident Sefkovic im März 2023 sprechen konnten und er im Namen der EU dieses Zugeständnis gemacht hat.

Was wurde innenpolitisch erreicht?

Die Anmeldefrist für EU-Betriebe, die in der Schweiz tätig sind, wird gemäss Abkommen von 8 auf 4 Tage verkürzt, aber das Schweizer Melde- und Kontrollverfahren wird zentralisiert und digitalisiert. Damit stellen wir sicher, dass die Meldungen schneller und direkt zu den Kontrollorganen gelangen und die Kontrollen auf den Arbeitsplätzen trotz Verkürzung der Voranmeldefrist möglich bleiben. Das Arbeitgeberquorum, aufgrund dessen der Bundesrat einen bestehenden Gesamtarbeitsvertrag als allgemeinverbindlich erklären kann, wird gesenkt. Das Quorum legt fest, wieviele Unternehmen des Geltungsbereichs im Arbeitgeberverband organisiert sein müssen. Derzeit liegt es bei 50 Prozent und soll nun tiefer liegen. Damit können die besseren Löhne und Arbeitsbedingungen in den GAV gesichert werden, auch wenn strukturelle Veränderungen das Organisieren der Arbeitgeber künftig erschwert.

Bei dem für sie wichtigsten Element hat die Schweiz keine Ausnahme von der EU-Spesenregelung erreicht. Die EU-Richtlinie gilt auch für die Schweiz.

Bei der EU-Spesenregel hat die Schweiz keine Ausnahme erhalten. Wir werden lernen müssen, mit EU-Richtlinien umzugehen. Ein EU-Mitgliedsstaat ist nicht wie ein Kanton, der schweizerische Bundesgesetze detailgetreu umsetzen muss. EU-Staaten, auch die Schweiz, haben bei der Umsetzung von EU-Richtlinien Handlungsspielraum.

Berndeutsch gesagt: der EU-Mitgliedsstaat schummelt und lässt es auf Klage und Busse aus Brüssel ankommen.

Das Seco stellt in einer noch nicht veröffentlichten Studie fest, dass eine grosse Mehrzahl von EU-Staaten die Lohnschutzrichtlinie nicht überall gleich anwendet. Es gelten vielerorts die Spesenansätze im Ort, wo die Spesen entstehen. Die EU sagt, die Schweiz solle diesen Handlungsspielraum nutzen. Wir legen künftig fest, dass im Zweifelsfall die Spesen in Höhe der Schweizer Ansätze geschuldet sind. Natürlich ist die Frage dann, wie das Schiedsgericht reagieren würde. Damit ist die Regelung nicht 100 Prozent wasserdicht, aber über 99 Prozent. Immerhin steht das Prinzip „gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort“ im Stabilisierungsvertrag. Und dieser anerkennt explizit das schweizerische Recht auf Lohnschutzmassnahmen wie die Anmeldefrist oder die Kontrolle durch die Sozialpartner. Das fehlte beim Rahmenabkommen. Jetzt haben wir  eine sehr gute Rechtssicherheit. Und wenn, dann könnte die Schweiz ihre Regelung trotzdem weiterführen. Die EU könnte höchstens verhältnismässige Ausgleichsmassnahmen gegen die Schweiz beschliessen. Da wie gesagt die EU-Staaten die Spesenregelung auch unterschiedlich interpretieren, ist nicht davon auszugehen, dass die EU-Kommission hier gegen die Schweiz vorgehen würde.

Trauen Sie Ihren Sozialpartnern? Das Unternehmertum ist in der EU-Frage gespalten, das neue Abkommen mit der EU gilt als „Kolonialvertrag“, die Gesamtarbeitsverträge als „Kartelle“, die paritätische Kontrolle des Lohnschutzes als Behinderung des freien Arbeitsmarkts.

Es wird auch auf unserer Seite Leute geben, die das Abkommen kritisieren, die Diskussion über das Ganze ist noch nicht geführt. Aber wenn die Gremien unserer Partner die getroffenen Entscheide mittragen, traue ich ihnen. Ich will ihnen vertrauen. Sozialpartnerschaft ist immer ein Auf und Ab. Es klappt nicht immer. Bei den Massnahmen, die gegen die 10-Millionen-Initiative der SVP ins Feld geführt werden sollen, haben die Arbeitgeber nicht bei allen Vorschlägen mitgemacht. Die Sozialpartnerschaft wird auch von der Politik immer gerühmt als Standortvorteil der Schweiz. Ich gehe deshalb davon aus, dass unsere Vorschläge, die jetzt auch die Vorschläge des Bundesrates sind, vom Parlament aufgenommen werden. Für uns ist klar: Die 14 Massnahmen sind kein Auswahlmenu. Für haben unsere Unterstützung gegeben, wenn das Paket integral mit allen 14 Massnahmen aufgenommen wird.

Sie leben in Huttwil im Kanton Bern. Das ist SVP-Kernland, stark unterlegt mit evangelischem Fundamentalismus. Die EU ist dort ein Feind. Wieviel ist die Einigung zum Lohnschutz dort wert? Was bedeutet sie für den Volksentscheid, der wohl erst 2027 ansteht?

Zu wissen, dass die Sozialpartner den Lohnschutz für gesichert halten, ist wichtig, Sonst wäre die Angst vor dem neuen Abkommen definitiv ein Faktor. Damit ist die Abstimmung allerdings noch nicht gewonnen.

Werden Sie als Gemeindepräsident von Huttwil darauf angesprochen?

Hier und da. Aber in den Gewerkschaftsversammlungen immer. Da heisst es „due de nid iiknicke, gäu“. Heute habe ich etwas in den Händen und kann mit den 14 Massnahmen zeigen, dass wir den Lohnschutz halten und ihn modernisieren können. Mit den bilateralen Verträgen können wir Arbeitsplätze und Wohlstand sichern. Diejenigen, die gegen das Ausland eingestellt sind, werden mit dem Argument des Lohnschutzes weniger erreicht. Aber der Lohnschutz wird kein Argument sein, um Nein sagen zu können. In der Abstimmung geht es um jene, die finden, dass ein Land wir die Schweiz in der heutigen Welt nicht ganz allein handeln kann, sondern die Zusammenarbeit mit anderen Ländern braucht. Es geht um stabile Verhältnisse für unsere Wirtschaft. Die letzten drei Monate mit Trump haben uns gezeigt, was stabile Verhältnisse wert sind. Eine Erpressung, wie sie die US-Regierung der Schweiz bereitet, wäre mit der EU nicht möglich, weil wir Vertragssicherheit haben. Der Stabilisierungsvertrag belässt uns alle Souveränität, wir können zu allem Ja oder Nein sagen – allerdings um den Preis von europäischen Ausgleichsmassnahmen, die zudem verhältnismässig sein müssen. Der schweizerische Lohnschutz ist davon dank der erwähnten Non-Regression-Klausel ja ausgenommen. Ich glaube, auch in Huttwil ist es möglich eine Mehrheit von den Bilateralen III überzeugen zu können – die Bilateralen I wurden im Jahr 2000 mit fast 61% angenommen.

 

#Institutionelle Fragen #Schweiz-EU

Adrian Wüthrich

 

Adrian Wüthrich ist Präsident des Gewerkschaftsdachverbands TravailSuisse, neben dem Schweizerischen Gewerkschaftsbund die zweite, kleinere Arbeitnehmerorganisation in der Schweiz. Er ist 44 Jahre alt, Mitglied der Sozialdemokratischen Partei, war bernischer Grossrat und von 2018 bis 2019 Mitglied des Nationalrats. Seit 2024 ist Wüthrich Gemeindepräsident von Huttwil (5000 Einwohner) im bernischen Oberaargau. Er ist einer der sozialdemokratischen Kandidaten für den Regierungsrat des Kantons Bern.

Espresso Diplomatique

Kurz und kräftig. Die wöchentliche Dosis Aussenpolitik von foraus, der SGA und Caritas. Heute steht Aserbaidschans Beziehung zu Russland im Fokus. Einst postsowjetische Verbündete, distanziert sich Aserbaidschan seit 2020 zunehmend vom Einfluss des Kremls. Nr. 483 | 12.08.2025

Eine Aussenpolitik für die 
Schweiz im 21. Jahrhundert

Neue Beiträge von Joëlle Kuntz (La neutralité, le monument aux Suisses jamais morts) und Markus Mugglin (Schweiz – Europäische Union: Eine Chronologie der Verhandlungen) sowie von Martin Dahinden und Peter Hug (Sicherheitspolitik der Schweiz neu denken - aber wie?) Livre (F), Book (E), Buch (D)    

Zu den Beiträgen

Schweiz im Sicherheitsrat

Das Schweizer Mandat im UNO-Sicherheitsrat (2023 und 2024) fiel in turbulente Zeiten, der Rat hatte Schwierigkeiten, in den grossen Fragen Entscheide zu fällen. Jeden Samstag haben wir das Ratsgeschehen und die Haltung der Schweiz zusammengefasst.

Infoletter abonnieren