Der geopolitische Experte Joseph de Weck sieht Europa angesichts der Grossmachtpolitik der USA, Russlands und Chinas in einer Situation, aus der es entweder niedergeschlagen oder aber in gestärkter Einigkeit sich selbst behauptend hervorgehen wird. In einer Aussenpolitischen Aula hat er Gründe für die optimistische Perspektive vorgelegt.
Donald Trumps Abrücken von Amerikas europäischen Partnern hat nach dem russischen Angriff auf die Ukraine und Chinas Rückkehr zum Autoritarismus weitere Gewissheiten und Fortschritts-Hypothesen infrage gestellt. Es zeige sich nach Worten von Friedrich Dürrenmatt, «dass wir das Wirkliche umzudenken haben, um ins Mögliche vorzustossen», sagte Joseph de Weck an einer Veranstaltung unter dem Titel «Die neue Welt-Unordnung – Was Europa tun muss». Der Referent, den die SGA-ASPE und das Forum Aussenpolitik (foraus) an die Universität Bern eingeladen hatten, ist bei Greenmantle, einem amerikanisch-britischen Beratungsunternehmen für Geopolitik, zuständig für Europa.
Joseph de Weck sieht uns in einer Zeit der Diskontinuität, in der die nähere Zukunft gleichsam die Antithese der jüngeren Geschichte sei. Entgegen der Vorstellung, dass der Fortschritt unaufhaltbar sei, der Krieg der Vergangenheit angehöre und der Westen die Welt in seinem Sinn formen könne, erlebten wir eine Rückkehr der Geschichte: einen gewaltsamen Neoimperialismus in Moskau, einen Überwachungsstaat in Peking, einen menschenverachtenden Futurismus im Silicon Valley und eine Pöbelherrschaft in Washington. Für Europa (primär die EU) ergebe sich – wolle es nicht zum Spielball werden – die Herausforderung, eine Synthese zu entwickeln aus der «Rückkehr des Rechts des Stärkeren» und der eigenen Geschichte von Recht, sozialer Marktwirtschaft, Menschenwürde und Demokratie.
Konkret manifestiert sich die Grossmachtpolitik, wie sie de Weck charakterisierte, im Streben nach exklusiven Einflusszonen. Putin will Russland wieder zum Hegemon in Osteuropa machen und Westeuropa vom Schutz durch die USA entblössen. Xi will als Chinas historischer Führer im Rang von Mao erscheinen und über die Rückgewinnung Taiwans das Südchinesische Meer kontrollieren Und Trump will im Perimeter von Panama bis Grönland allein schalten und walten, wobei Europa verzichtbar wird. Das Denken in einer Grossraumpolitik könnte nach dieser Analyse zu einer Aufteilung der Welt, dann aber auch zu einem grossen Konflikt führen. Der Westen existiere jedenfalls als geopolitisch handelnde Grösse nicht mehr. Teils aus wirtschaftlichen, teils aus reaktionär-ideologischen Motiven setze die Trump-Regierung ein ökonomisch, militärisch und politisch schwaches Europa unter Druck. Zu ihrer aggressiven Politik gehörten neben eskalierenden Zöllen und territorialen Ansprüchen auch Forderungen, die etwa bei der Regulierung sozialer Medien in die Souveränität und den Alltag eingreifen würden.
Damit Europa nicht fremdbestimmt wird, sondern sich zur Mündigkeit durchringt, muss es nach de Weck zum einen seine eigene Verteidigungsfähigkeit organisieren. Die Absichten zur Stärkung der französischen Atomstreitkräfte, zu einer schuldenfinanzierten gemeinsamen Aufrüstung und zu Investitionen in technische Schlüsselsysteme wären ein Fundament, um dieses Ziel in acht bis zehn Jahren zu erreichen. Zum andern brauche es eine neue wirtschaftliche Dynamik mittels einer Vertiefung des Binnenmarkts, eigener Tech-Giganten und Energiesicherheit. Für zusätzliche Staatsschulden gebe es Spielraum; weil sie aber Ärmere stärker träfen, sollte die Rückzahlung mit höheren Steuern auf Kapital erfolgen.
Hoffnung, dass der positive Weg begangen wird, geben dem Experten die rasche Weiterentwicklung der EU in den letzten Jahrzehnten und der Eindruck, dass die Europäer den historischen Moment erfasst hätten. Auch seien die Rechtspopulisten nun auf dem Höchststand angelangt. «Europa hat in dieser Weltunordnung wieder ein starkes Narrativ,» betonte de Weck. «Noch nie war die raison d’être des europäischen Projekts so klar. Vielleicht so glasklar, dass sie selbst hier in der Schweiz erkannt wird.»
Vor gefährlichen Jahren
In der Diskussion, die der SGA-Präsident, Nationalrat Jon Pult, leitete, teilten foraus-Präsidentin Elisa Cadelli und SGA-Vorstandmitglied Markus Mugglin die generelle Perspektive des Referenten. Cadelli erwartete unter anderem einen Gewinn, indem Wissenschafter aus den USA abwanderten, und wies auch auf Chancen für den Euro als internationale Währung hin. Mugglin erinnerte an Jean Monnets Prognose «l’Europe se fera dans les crises», äusserte sich aber insofern vorsichtig, als die jetzige Krise tiefer reiche als frühere und gerade die Verteidigungsdebatten «für übermorgen» seien. Vorerst frage sich, wie Europa überhaupt aus dem Offside an den Tisch gelangen könne. De Weck räumte ein, dass die nächsten zwei, drei Jahre «ungemütlich» sein dürften; das Schicksal der Ukraine hänge von den USA ab. Die Frage, ob Trumps Politik irreversibel sei, bejahte er im Prinzip. Das europäische «Urvertrauen in Uncle Sam» sei weg, und auch ein demokratischer Präsidentschaftskandidat würde 2028 einen Teil der America-first-Politik übernehmen. Ungewiss blieb in der Diskussion nicht zuletzt, ob in Europa die zusätzlichen Lasten so einfach sozial aufgefangen und rechtspopulistische Reaktionen verhindert werden können.
Was bedeuten die neuen Konstellationen für die Schweiz? Ihre oft technisch geprägte Europapolitik dürfte eine wohltuende zusätzliche Dimension erhalten, erwartete Mugglin. Er forderte ein stärkeres Engagement in der «Sicherheitspolitik jenseits der Grenze», also in der Ukraine- und der Entwicklungshilfe, zumal der Rohstoffhandelsplatz von den Turbulenzen auf den Weltmärkten massiv profitiert habe. Handels- und sicherheitspolitisch sollte die Schweiz nicht allein agieren. Nach Cadelli bietet die Neutralität durchaus Raum für eine engere militärische Interoperabilität mit der Nato. Joseph de Weck bekräftigte diese Ausrichtung. Die Schweiz, bisher Trittbrettfahrer der Trittbrettfahrer, sollte Europa nicht nur wirtschaftlich als Lebensversicherung betrachten und dementsprechend etwas zur Einigung beitragen.
Kurz und kräftig. Die wöchentliche Dosis Aussenpolitik von foraus, der SGA und Caritas. Heute steht Kolumbien im Fokus. Guerillagewalt, Millionen Geflüchtete aus Venezuela und der Kollaps der Darién-Route machen das Land zum Brennpunkt der lateinamerikanischen Migrationskrise. Nr. 486 | 23.09.2025
Neue Beiträge von Joëlle Kuntz (La neutralité, le monument aux Suisses jamais morts) und Markus Mugglin (Schweiz – Europäische Union: Eine Chronologie der Verhandlungen) sowie von Martin Dahinden und Peter Hug (Sicherheitspolitik der Schweiz neu denken - aber wie?) Livre (F), Book (E), Buch (D)
Zu den BeiträgenDas Schweizer Mandat im UNO-Sicherheitsrat (2023 und 2024) fiel in turbulente Zeiten, der Rat hatte Schwierigkeiten, in den grossen Fragen Entscheide zu fällen. Jeden Samstag haben wir das Ratsgeschehen und die Haltung der Schweiz zusammengefasst.
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