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Mit allen reden und auf Multilateralismus beharren – der «Norwegian way»

Die angelaufene «Zeitenwende» signalisiert Rückkehr zu nationalem Egoismus, regionalem Hegemonieanspruch, wirtschaftlicher Erpressung und militärischer Drohung. Der norwegische Vize-Aussenminister erklärt, wie sein Land damit umgeht, und warum seine Regierung weiterhin auf Dialog auch mit Geächteten und auf internationale Institutionen setzt.

Norwegen gründet seinen Weg auf eine umfassende Analyse, aus welcher folgt, dass die einzige Möglichkeit zu wirklichem Frieden und der Bewältigung globaler Bedrohungen darin besteht, sich breit zu engagieren, das Völkerrecht zu stärken und die globalen Institutionen aufzufrischen.

Einige werden dies als hoffnungslos altruistisch abtun, fern von jedem realistischen Verständnis der menschlichen Natur. Nichts könnte falscher sein. Norwegens Aussenpolitik wurzelt entschieden in unserem nationalen Eigeninteresse. Denn eine Welt, in der das Gesetz des Dschungels regiert oder die sich in konkurrierende parallele Interessen zersplittert ist etwas, das wir tunlichst vermeiden sollten.

In mancher Hinsicht ist Norwegen ein konventionelles Mitglied der westlichen Allianz. Aber in drei breiten Bereichen unterscheiden wir uns von zumindest einigen gleichgesinnten Ländern. Erstens in unserer Bereitschaft, Partnerschaften mit einer Bandbreite unterschiedlicher Länder einzugehen, auch solchen, deren Interessen deutlich im Widerspruch zu den unsrigen stehen. Zweitens in unserem Bekenntnis zum Völkerrecht, das die Überzeugung einschliesst, dass diese Normen nur dann als gemeinsames Vokabular aufrechterhalten werden können, wenn Staaten in ihrer Anwendung und ihrem Bezug darauf doppelte Standards vermeiden. Drittens im festen Bekenntnis zur Auffrischung der globalen Institutionen, damit diese wirklich als Generatoren gemeinschaftlicher Lösungen dienen können.

Engagement

Der Schlüssel heisst Engagement. Wir waren beispielsweise bereit zum regelmässigen Dialog mit den Taliban, den Huthi, Hamas und anderen bewaffneten Gruppen und Staaten, die nicht für ihre Menschenrechte oder völkerrechtlichen Qualitäten bekannt sind. Manchmal hat uns das in Widerspruch zu anderen westlichen Partnern gesetzt. Aber es ist Realpolitik. Der Einfluss nicht-westlicher Länder wächst. Die Tage, da der Westen Lösungen für globale Herausforderungen konstruieren und sie anderen aufdrängen konnte, sind eindeutig vorbei, wenn sie denn je existiert haben. Also ist es in unserem Eigeninteresse, mit allen Akteuren zu reden.

Norwegens Ansatz erkennt, dass die Welt schlicht zu gefährlich und problembelastet ist, um sich nur mit Staaten und Interessengruppen zu engagieren, mit denen man mehrheitlich gleicher Meinung ist. Das heisst, dass unsere Beziehungen zu einigen Ländern notwendigerweise nach Bereichen getrennt sind. Mit China haben wir eine starke Partnerschaft auf der Suche nach dauerhaften Lösungen für die Klimakrise entwickelt. Zu Beginn dieses Jahres sind Norwegen und China übereingekommen, einen formellen Dialog zur Zusammenarbeit beim grünen Wandel zu etablieren. Nichtsdestotrotz sind wir entschlossen, chinesische Menschenrechtsverletzungen und andere Brüche des Völkerrechts beim Namen zu nennen.

Eine niedere Schwelle für das Engagement mit anderen Ländern macht es leichter, die Entscheide anderer zu versehen. Das mag offensichtlich erscheinen, ist es aber nicht. Eine Aussage wie «wir müssen verstehen, was Hamas veranlasste, am 7. Oktober Israel anzugreifen», mögen einige als Ausdruck von Sympathie für Hamas auffassen. Aber die Motivation anderer zu verstehen ist eine Vorbedingung sowohl für die Einflussnahme auf ihr Verhalten als auch für die Formulierung intelligenter Politikanworten.

Der norwegische Ansatz gegenüber den Huthi und ihren Angriffe auf Schiffe im Roten Meer ist ein Beispiel. Als Schifffahrtsnation machen wir deutlich, dass derartige Attacken, darunter auch solche auf norwegische Schiffe, nicht zu rechtfertigen und kontraproduktiv sind. Dennoch haben wir unser langes und breites Engagement mit den jemenitischen Akteuren einschliesslich der Huthi fortgesetzt.

Wir haben diesen Kommunikationskanal genutzt, um die Operationen der Huthi im Roten Meer in stärkster Weise zu verurteilen. Wir haben betont, dass diese nicht nur das seit langem angestrebte Friedensabkommen mit Saudi-Arabien unterminieren Sie schaden auch der palästinensischen Sache insofern, als sie von den palästinensischen Forderungen ablenken und denjenigen Auftrieb geben, die für militärische Lösungen eintreten, was die palästinensische Bevölkerung nur noch stärker verletzt. Unsere Diskussionen mit den Huthi haben auch bestätigt, dass ein dauerhafter Waffenstillstand im Gazastreifen der einzige Weg ist, die Attacken im Roten Meer zu beenden. Es ist schlicht unmöglich, die Huthi mit militärischen Mitteln allein genügend zu schwächen. Alles in allem hat unser Engagement mit den Huthi uns befähigt, vorrangige Punkte vorzutragen, unsere eigene Analyse zu schärfen und unsere Politik danach auszurichten.

Um einen sich aufschaukelnden Krieg zwischen Iran, Libanon und Israel zu vermeiden, der nach übereinstimmender Meinung aller verheerende regionale und globale Auswirkungen hätte, erfordert nun, dass wir uns mit Hamas, den Huthi, Hisbullah und verschiedenen Milizen in Irak und Syrien auseinandersetzen. Diese Akteure sind schwer bewaffnet. Sie haben ihre eigenen Idiosynkrasien und Kalküle. Strategien, die auf ihre Schwächung durch militärische Mittel ausgerichtet sind, mögen entschlossen und hart tönen, aber ohne Begleitung durch diplomatische Anstrengungen funktionieren sie selten. Norwegens Ansatz ist daher, militärische Operationen zu unterstützen, die wir als wirkungsvoll einschätzen, aber auch die Kommunikationskanäle offen zu halten.

Über «wir und sie» hinaus

Das direkte Engagement mit einer grossen Breite von Akteuren kann die komplexen motivierenden Faktoren freilegen, die Verhalten steuern. Dies wiederum macht die Identifizierung diplomatischer Lösungen leichter, als wenn ein Gegenspieler als von Natur aus böse definiert wird.

Die Taliban sind ein Beispiel. Norwegen hat nie gezögert, die schlimme Menschenrechtsbilanz der Gruppe zu kritisieren. Aber wir sind auch überzeugt, dass jede wirkungsvolle Afghanistan-Strategie Diskussion und Dialog mit den Taliban einschliessen muss. Seit dem Fall von Kabul vor drei Jahren haben die westlichen Länder mehrheitlich mit Sanktionen und Isolation geantwortet. Die Antwort der Taliban bestand darin, ihre Repression hochzufahren. Aber Norwegen hat sich engagiert, einschliesslich der Veranstaltung von Treffen zwischen den Taliban und der afghanischen Zivilgesellschaft und Organisationen für Frauenrechte. Die Diskussionen waren direkt und offen, und sie fanden oft auf Begehren der afghanischen zivilgesellschaftlichen Gruppen selbst statt.

Auch die Schaffung dauerhafter Friedensabkommen zwischen Staaten und nichtstaatlichen Akteuren erfordert Engagement. Norwegen hat eine Tradition, derartige Prozesse zu fazilitieren. Für unsere Beteiligung haben wir typischerweise zwei Kriterien. Erstens müssen die Konfliktparteien unser Engagement wollen, zweitens muss ein positives Ergebnis als erreichbar eingeschätzt werden.

Repressive Staaten und Gruppen sind fast nie monolithische Gebilde. Auch die despotischste Gruppe ist fragmentiert, mit einigen Elementen, die eher zu Kompromiss und Ansprechbarkeit bereit sind. Unsere Aufgabe ist es, Wege zu finden, um solche positiven Kräfte zu entfalten. Es ist entscheidend, darauf zu beharren, alle relevanten Akteure fortwährend daraufhin zu prüfen, immer wieder nach Möglichkeiten der Stärkung reformbereiter Elemente innerhalb der Machstrukturen zu suchen. Zwischen gegnerischen Parteien versuchen wir typischerweise eine Dynamik herzustellen, bei der eine Partei stufenweise Schritte in Richtung Kompromiss macht, was bei der anderen Seite die Bereitschaft zur Antwort in gleichem Sinn freilegen kann. Das Ziel ist, eine Atmosphäre des Vertrauens zu schaffen, damit die Parteien weitere Schritte hin zur Deeskalation und Versöhnung wagen.

Norwegen wird manchmal für das Engagement mit Staaten und Gruppen kritisiert, die für schwere Menschenrechtsverletzungen oder Gräuel verantwortlich sind. Die Kritik besteht üblicherweise darin, dass unser Engagement die Glaubwürdigkeit derjenigen stärke, mit denen wir reden. Es stimmt, wir müssen extrem vorsichtig sein, die Verantwortlichen für Vergehen an der Zivilbevölkerung nicht zu belohnen. Das kann bedeuten, dass wir den üblichen Pomp und die Nettigkeiten weglassen, die diplomatische Begegnungen oft kennzeichnen. Und wir halten uns immer an die Verpflichtungen als Vertragspartei des Internationalen Strafgerichtshofs und anderer Rechenschaftsmechanismen. Aber wir müssen uns auch jener Auffassung widersetzen, die direktes Engagement mit ausdrücklicher oder stillschweigender Zustimmung zu unseren Gesprächspartnern gleichsetzt. Tatsächlich erlaubt direkte Kommunikation gewöhnlich deutlichere Botschaften des Missfallens als Verzicht auf Engagement.

Das gemeinsame Vokabular des Völkerrechts

Mit allen zu reden und Gegner zu engagieren ist entscheidend für die Lösung globaler Herausforderungen, aber ungenügend ohne ein gemeinsames normatives Vokabular. Deshalb bezieht sich der «norwegische Weg» eng auf das Rahmenwerk des Völkerrechts. Nach unserer Ansicht kann dieses gemeinsame Vokabular nur aufrechterhalten werden, wenn alle Staaten doppelte Standards in seiner Anwendung und der Berufung darauf vermeiden. Deshalb müssen wir in unserer Befolgung der internationalen Regeln konsistent sein, selbst wenn es mit unseren kurzfristigen politischen Interessen und Prioritäten schwer zu vereinbaren ist.
Was heisst das in der Praxis? Es schliesst sicher mit ein, dass wir darauf bestehen, dass ähnliche Fälle gleichbehandelt werden, und dass alle Staaten denselben Regeln unterliegen. Unsere Unterstützung der Ukraine gegen Russland gründet auf dem Völkerrecht. Dasselbe gilt für unsere Kritik am Terror von Hamas gegen Israel und an Israels illegaler Präsenz in den besetzten palästinensischen Gebieten und der militärischen Kampagne in Gaza. Norwegens vor kurzem ausgesprochene Anerkennung der palästinensischen Staatlichkeit ist als Element einer folgerichtigen Anwendung des Rechts zu verstehen. Eine Zweistaatenlösung erfordert einen palästinensischen und einen israelischen Staat, wie im Teilungsplan der UNO von 1947 vorgesehen. Norwegen anerkannte den Staat Israel formell im Jahre 1949 und stimmte im selben Jahr für Israels Mitgliedschaft in der UNO. Seither hat Norwegen die israelische Staatlichkeit und Sicherheit standfest unterstützt. Unsere Unterstützung für Israel und die Zweistaatenlösung schliesst ein, dass wir nun Palästina dieselben Rechten und Pflichten zugestehen.

Ein weiterer Aspekt des gemeinsamen Vokabulars ist die Anerkennung der grundlegenden Realität, dass die gegenwärtige Weltordnung in schwerer Schieflage gegen den globalen Süden ist. Norwegen nimmt diese Bedenken ernst und ist entschlossen, weitreichende Lösungen zu finden. Ein Beispiel ist unsere Aufgeschlossenheit gegenüber einem UNO-Prozess zur Aushandlung globaler Besteuerungsregeln. Bis anhin wurde dieses Thema vor allem innerhalb der OECD ausgehandelt, einer Organisation mit vornehmlich westlichen Mitgliedern. In der heutigen Welt ist es schlicht nicht haltbar, dass Regeln über die Besteuerung, das Klima oder Künstliche Intelligenz ausgehandelt werden, ohne dass alle Länder der Welt als gleichberechtigte Teilnehmer am gleichen Tisch sitzen. Dass weder Afrika noch Lateinamerika bei den ständigen Mitgliedern des UNO-Sicherheitsrats vertreten sind, ist wohl das augenfälligste Beispiel, weshalb wir die institutionelle Reform an oberste Stelle der Agenda für die Erhaltung des Multilateralismus setzen müssen.

 

 

#Multilateralismus #Völkerrecht

Der Autor

Andreas Motzfeldt Kravik ist Mitglied der norwegischen Arbeiterpartei und seit August 2023 stellvertretender Aussenminister. Die Orginalfassung seines Texts wurde auf Englisch vom European Council on Foreign Relations publiziert und erscheint hier mit dessen Erlaubnis in gekürzter Form. Deutsche Übersetzung: SGA-ASPE.

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