Lesetipp

Verflochtene Schweiz – verflochtenes Recht

Von den zahlreichen Schriften des Zürcher Staats-, Europa- und Völkerrechtlers Dietrich Schindler (1924-2018) ist eine Auswahl neu publiziert worden. Die Beiträge gelten unter anderem den Zusammenhängen und Spannungen zwischen den politischen Ebenen, dem humanitären Kriegsrecht und der Neutralität. Die nüchterne Analyse öffnet Perspektiven für eine international aktiv beteiligte Schweiz.

1963 entwarf Max Imboden, Rechtsprofessor in Basel, eine Verfassung für die Europäische Gemeinschaft, und 1919 hatte der Bundesrat für den Völkerbund eine von Max Huber formulierte Satzung vorgeschlagen. Dietrich Schindler, von 1964 bis 1989 Professor an der Universität Zürich, war wohl zurückhaltender, aber bei aller unerschütterlichen Sachlichkeit ebenfalls ein wissenschaftlicher citoyen, der das Gemeinwesen – und eben nicht nur das nationale – auf konstruktive Weise im Blick hatte. Die Aufsätze, Vorträge und Buchbeiträge, die zwei Fachkollegen, sein Neffe Benjamin Schindler und sein Nachfolger Daniel Thürer, hundert Jahre nach Schindlers Geburt neu herausgegeben haben, sind gerade auch in einer Zeit von Interesse, in der Abgrenzungstendenzen und Egoismen der kurzsichtigen Art überhand zu nehmen drohen.

Die Schweizer Mühen mit Europas Integration

Die Breite von Dietrich Schindlers Arbeitsbereich erlaubte es ihm nicht zuletzt, die immer wichtiger werdenden transnationalen Parallelitäten und Verflechtungen in den Blick zu nehmen. So verglich er den dynamischen europäisch-supranationalen «Föderalismus» mit der schweizerischen Bundesstaatlichkeit, in der sich die Kantone überwiegend defensiv verhalten. Oder er betrachtete die Unterschiede im Demokratieverständnis der Eidgenossenschaft und der Union, die in dieser Hinsicht Defizite aufweist. Er konstatierte, dass die direkte Demokratie Kompetenzverlagerungen auf eine höhere Ebene erschwert – und dass sie in der Schweiz eine aktive Aussenpolitik eher bremst, umgekehrt durch die Neutralität begünstigt worden ist. «Es wäre jedoch ein Irrtum zu glauben, durch mehr innerstaatliche Demokratie könne ein Staat der internationalen Verflechtung entgehen.»
In der EU sind mehrere Reformen nach den beschriebenen Ansätzen inzwischen realisiert worden. In der schweizerischen Europapolitik, so lässt sich aus Schindlers Darlegungen schliessen, sollte das traditionelle Misstrauen gegen die Möglichkeit der Mitwirkung kleinerer Einheiten in der grösseren überwunden werden. Denn angesichts ihrer Lage und der wirtschaftlichen Verflechtung habe sie, wie er 1990 ohne Polemik schrieb, «bereits heute die Stellung eines Satelliten». Zunehmend «könnte sich die Frage stellen, ob nicht der Beitritt zur EG, der die Mitbestimmung beim Erlass der EG-Normen gewährleistet, der einseitigen Anpassung vorzuziehen wäre». Die direkte Demokratie könnte dabei zum grossen Teil gewahrt bleiben.

Wie universal kann Recht sein?

Die breitere Abstützung des übergeordneten Rechts war für Schindler auch auf der internationalen Ebene ein Thema. Er dachte dabei unter anderem an neue Formen der Mitwirkung von Bürgergruppen oder nationalen Parlamenten, die schon vor Abschluss eines Vertrags zum Zuge käme, allerdings nur konsultativ sein könnte. Verbindliche Mechanismen der repräsentativen oder direkten Demokratie würden ein Gemeinschaftsbewusstsein voraussetzen, wie er es 1996 auch in der EU, in Wechselwirkung mit den Institutionen, erst langsam heranwachsen sah. Jahrzehnte früher, in seiner Antrittsvorlesung als Privatdozent 1956, hatte er sich mit dem Verhältnis von «Völkerrecht und Zivilisation» befasst. Die grundlegenden Rechtsvorstellungen müssten in allen Staaten gleichermassen vorhanden sein; das Völkerrecht könne «nicht die Voraussetzung seiner Existenz schaffen», hielt er damals fest – und ging auf die allfällige Orientierungsfunktion des Rechts nicht ein. Einleuchtend jedenfalls die Folgerung, die «Pluralität der Zivilisationen» sei stärker in Rechnung zu ziehen. Skepsis ergab sich aus dieser Einschätzung der «westlichen» Position auch für das Zustandekommen oder für die Wirksamkeit des internationalen Menschenrechtsschutzes. Entsprechende UNO-Abkommen wurden zwar 1966 geschlossen, spiegeln aber in ihrer grossen Breite keinen festen universalen Konsens.
Das Problem ungenügender Respektierung oder krasser Missachtung zeigt sich besonders schmerzlich beim Recht auf ein Minimum an Menschlichkeit in bewaffneten Konflikten. Schindler war fast 30 Jahre lang Mitglied des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz. Den Genfer Konventionen, ihrer Geltung in Bürgerkriegen und komplexen Konstellationen gelten mehrere Beiträge in dem Band. Speziell widmete sich der Autor auch der Frage, wie das humanitäre Völkerrecht auch für Truppeneinsätze unter dem Recht der UNO vollumfänglich verpflichtend gemacht werden könnte, was wegen des Gegenrechts auch dem Schutz der Friedensstreitkräfte diente.

Rechtsstaatlichkeit für den Menschen

Dietrich Schindlers schrieb in einem unprätentiösen Stil, der sich als ziemlich zeitlos erweist. Unvermeidlich ist indessen, dass sich die Texte oft auf politische und rechtliche Verhältnisse beziehen, die sich seither weiterentwickelt und verändert haben. Auch erscheint zum Beispiel die Annahme, ein grosser Fortschritt der europäischen Einigung hänge von einer schockartigen äusseren Bedrohung ab (1997), nach dem russischen Angriff auf die Ukraine als allzu schematisch. Kaum anpassungsbedürftig ist wohl das Neutralitäts(rechts)kapitel aus dem SGA-Handbuch von 1975, und auch die Studie für die Bergier-Kommission über Neutralitätsverletzungen im Zweiten Weltkrieg (2001) ist nach wie vor klärend.
Aus dem staatsrechtlichen Teil sei der Aufsatz «Richterliches Prüfungsrecht und politischer Mehrheitswille» (1955) herausgegriffen. Ausgehend von Urteilen des US Supreme Court und ihren Folgen kam Schindler zum Schluss, dass sich der demokratische Wille meistens irgendwie durchsetze, namentlich durch Revision des Rechts. Damit relativierte er das Konfliktpotenzial und hob als Wirkung einer Verfassungsgerichtsbarkeit – auch für die Schweiz – hervor, dass sie «zur Festigung des Rechtsbewusstseins beitragen» könne oder könnte. Um etwas Formales ging es ihm dabei nicht. Ein Rechtsstaat, schrieb er 1962 mit einem ungewöhnlichen Hauch von Pathos, «ist ein Staat, der auf der Konzeption des Menschen als eines freien, geistigen und zur Verantwortung berufenen Wesens beruht». Diese humane Haltung ist gewiss auch fruchtbar, wenn es um internationales Recht geht.

#Schweiz-EU #Schweizer Aussenpolitik #Völkerrecht

Das Buch

Benjamin Schindler, Daniel Thürer (Hg.): Gemeinwesen zwischen Tradition und Weltoffenheit. Ausgewählte Schriften von Dietrich Schindler (1924-2018). Schulthess, Zürich 2024. 541 S., Fr. 178.-.

Espresso Diplomatique

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