Interview

«Keine Neutralität gegen jene, welche die UNO-Charta verletzen»

Der Basler Jurist Markus Mohler, ehemaliger Dozent für öffentliches, speziell für Sicherheits- und Polizeirecht an den Universitäten von Basel und St. Gallen, kämpft für ein neues Verständnis der schweizerischen Neutralität. Sie soll nicht rechtlich fixiert, sondern politisch flexibel gehandhabt werden. Im Interview mit der SGA-ASPE legt er seine Argumente dar.

Gemäss den jährlichen Umfragen der ETH sind rund 90 Prozent der Schweizer Bevölkerung der Meinung, die Neutralität gehöre sozusagen unverrückbar, als Wesensmerkmal, zur Schweiz. Sie kritisieren diese Umfragen. Warum?

Die Umfrage geht nicht von Fragen aus, sondern von bestimmten Aussagen, die den befragten Personen vorgelegt werden. Zum Beispiel: Die Schweiz soll  ihre Neutralität beibehalten – stimmen Sie zu oder nicht? Diese Aussage ist an sich schon fast manipulativ. Sie impliziert von vorneherein eine Neutralität, die es so nicht gab und gibt. Dieses Bild ist völlig veraltet.

Was müsste dann gefragt werden?

Es geht darum zu fragen, was die Neutralität heute bedeutet, zur Folge hat. Was ihre Funktion ist und was ihre Konsequenzen sind.  Also zum Beispiel zu fragen: wollen Sie auch, dass die Schweiz neutral ist, wenn sie angegriffen wird? Und was heisst: angegriffen werden? Wird sie jetzt bereits angegriffen, oder wird sie erst angegriffen, wenn Panzer am Bodensee stehen? Putin missachtet  die UNO-Charta, das Gewaltverbot.  Meinen Sie, er würde die Neutralität als Schutz der Schweiz vor sich, Putin selber, beachten? Mit solchen Fragen  sollten die Befragten mit der heutigen Situation konfrontiert, zum Nachdenken gebracht werden.

Die ETH-Umfrage, wie sie seit den 1990er Jahren besteht, misst also etwas Falsches?

Die Aussagen zur Erhebung der Neutralitätseinstellung in der Bevölkerung datieren von zirka 1995. Das ist die Zeit unmittelbar nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und des Warschauer Paktes, damals bekanntlich das Ende der Geschichte. Es  gab den zweiten grossen Block, die Sowjetunion als Bedrohung, vermeintlich nicht mehr. Heute haben wir eine völlig veränderte Situation. Die Laborbedingungen für eine solche Umfrage haben sich vollkommen verändert. Sie muss sich anpassen.

Bestreiten Sie, dass die Umfrage etwas misst, das in der Bevölkerung in der Tat besteht, nämlich die Vorstellung, dass die Neutralität einfach zur Schweiz gehört, unabhängig von allen Bedingungen, die es weltpolitisch gibt?

Ja. Man redet ja von der «DNA der Schweiz». Das ist ein reines Bauchgefühl, ein Mythos, eine behauptete Überhöhung. Das hat mit rationalen Überlegungen nichts zu tun. Und hier möchten wir einsetzen. Denn es besteht ja ein grosser Widerspruch. In der publizierten Umfrage 2025 heisst es, dass zwar 87 Prozent für die Beibehaltung der Neutralität seien, 30 Prozent  aber für den Beitritt zur NATO. Dieser Widerspruch wird nicht aufgelöst.

Ist die ETH für Änderungsvorschläge empfänglich?

Wir werden erfreulicherweise als kleine Gruppe unter den Unterzeichnern des «Manifest 21 für eine Neutralität in diesem Jahrhundert» mit den Autoren dieser Umfrage des Security Center der ETH solche Fragen diskutieren können.

Die Verteidiger einer absoluten, in Stein gemeisselten Neutralität würden einwenden, es möge sein, wie Sie sagen,  und die Einstellungen der Bevölkerung veränderten sich vielleicht mit den Gegebenheiten rund um die Schweiz, aber gerade deswegen müsse man diese Neutralität festzurren.

Was soll sie dann bringen? Was ist die Funktion der Neutralität? In der aktuellen bedrohlichen Lage ist sie sicherheitspolitisch als Verfassungsbestimmung nicht haltbar, aber gefährlich.

Wenn ich die Leute richtig verstehe, die so denken, würden sie sagen: Historisch gesehen, hat die Neutralität der Schweiz genutzt. Die Schweiz ist mit dieser absoluten Neutralität immer gut gefahren, also wird es auch in Zukunft so sein.

Erstens war diese Neutralität nie absolut. Sie war eine Slalomfahrt durch die Geschichte hindurch. Und zweitens ist es nicht unbedingt die Neutralität, welche die Schweiz aus dem Zweiten Weltkrieg herausgehalten hat, sondern es waren die ganz speziellen Bedingungen, die auch in den Unterschieden zwischen den beiden Achsenmächten lagen. Mussolini zum Beispiel hatte ein grosses Interesse an der Neutralität, weil er die Alpenbarriere zu Hitler wollte, und das hat nichts mit der Neutralität zu tun, sondern nur mit Interessen  von Italien gegen Hitler und damit den italienischen Interessen an der Neutralität der Schweiz.

Der Bundesrat hat damals neutralitätspolitisch taktiert, taktieren müssen, das Volk wurde nicht gefragt. Die Neutralität wurde flexibel gehandhabt.

Ja. Der Bundesrat hat damals das ihm Bestmögliche getan. Es war vollkommen klar, dass die Neutralität nicht der Schlüssel war, dass die Schweiz nicht angegriffen worden war.  Man denke auch an die Absprachen, die General Guisan getroffen hat, die er als Neutraler streng genommen nicht hätte treffen dürfen.  Aber sicherheitsmässig musste er es. Hitler hätte übrigens, wenn er nicht zum Glück besiegt worden wäre, auch die Schweiz angegriffen.  Es gibt ja den berühmten Spruch: «Die Schweiz, das kleine Stachelschwein, nehmen wir auf dem Rückweg ein». Das war die Planung der «Operation Tannenbaum».

Was heisst das nun übertragen auf unsere heutige Situation?

Die heutige Situation ist: Putin hat Europa an seiner Ostgrenze angegriffen, Europa ist im Krieg. Mit der Ukraine ist der ganze Kontinent angegriffen, damit auch die Schweiz. Der  Kontinent muss sich verteidigen.

Was heisst das für die schweizerische Neutralitätspolitik?

Das heisst: wir müssen die aktuell betriebene Sicherheits- und Aussenpolitik neu orientieren. Wir müssen auch solidarisch sein mit Europa! Wir müssen sie vorausschauend auf die Lage ausrichten und nicht auf eine historisch überhöhte Vorstellung der Neutralität, die es in diesem Sinn gar nicht gab. Sie ist auch nicht ehrlich.

Worin besteht die Unehrlichkeit?

Wir machen die Wirtschaftssanktionen der EU mehr oder weniger mit, nicht ganz alle, aber wir liefern keine militärischen Güter an die Ukraine und wir verbieten die Wiederausfuhr von in der Schweiz vor Jahren gekauftem Kriegsmaterial, beispielsweise Flabmunition und Schützenpanzer, durch Drittländer.  Damit unterstützen wir die Wirkung der russischen Luftangriffe. Was ist da noch neutral?  Die zweite Frage, die sich stellt, lautet: worauf bezieht sich denn diese Neutralität? Bezieht sie sich auf ein Land? Bezieht sie sich auf die Aggression, den Krieg, die Kriegführung? Bezieht sie sich auf die grauenhaften Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen. Sind wir da auch neutral? Gegen diese kann es keine Neutralität geben.

Die Regierung in Bern verurteilt die Menschenrechtsverletzungen und die Kriegsverbrechen.

Reicht  es mit einigen spröden Lippenbekenntnissen? Die Rede ist ja immer von der Gesinnungsneutralität, die es nicht gebe, und von der Neutralität in einer Kriegssituation, die es gibt. Das ist die konventionelle und unredliche Antwort. Es gibt neben der UNO-Charta die  Articles on Responsibility of States for Internationally Wrongful Acts (Artikel über die Verantwortlichkeit von Staaten für völkerrechtlich illegale Akte) der International Law Commission der UNO. Diese verpflichten die Staaten, mit legalen Mitteln dem Völkerrechtsbruch ein Ende zu setzen. Und sie verpflichten dazu, weder den schweren Völkerrechtsbruch als legal zu betrachten noch Unterstützung durch Nichtstun zu seiner Aufrechterhaltung und Fortsetzung zu leisten. Handlungen und Unterlassungen gegenüber wrongful Verhalten sind gemäss diesen Artikeln  gleichgestellt. Dementsprechend stellte der Bundesrat im Neutralitätsbericht von 1993 fest: «Dieses System (das heisst die UNO-Charta) verlangt immer und von allen Staaten aktives Handeln gegen den Friedensbrecher». Das scheint derzeit in Vergessenheit geraten zu sein.

Die Verteidiger der uneingeschränkten, immerwährenden Neutralität stützen sich auf die Haager Abkommen von 1907, die von der Schweiz ratifiziert worden sind.

Zwei davon, das fünfte über den Landkrieg und das  dreizehnte über den Seekrieg, enthalten einzelne Bestimmungen für die Neutralen, unter anderem das sogenannte Gleichbehandlungsgebot.

Keine Lieferungen von Waffen oder Kriegsmaterial an kriegführende Staaten?

Nicht ganz. Die Lieferung von Kriegsmaterial durch eine private Firma war damals gestattet. Der neutrale Staat war  nicht verpflichtet, dagegen einzuschreiten. Das Gleichbehandlungsgebot heisst, dass der neutrale Staat beide kriegführenden Parteien gleich behandeln muss.

Deshalb bewilligt die Schweiz den europäischen Staaten keine Wiederausfuhr von in der Schweiz erworbenem Kriegsmaterial an die Ukraine, und deshalb wird die Übernahme von EU-Sanktionen gegen Russland als Neutralitätsverletzung kritisiert.

Indem wir Wiederausfuhren von Waffen  an die Ukraine unterbinden, begünstigen wir russische Angriffe und schmälern die Verteidigungsfähigkeit der Ukraine. Das verstösst selbst gegen das Gleichbehandlungsgebot. Das Gleichbehandlungsgebot als Kern widerspricht diametral dem in der UNO-Charta verankerten Verbot der Gewaltandrohung und -anwendung. Die Charta unterscheidet zwischen Aggressor- und Opferstaat. Da bleibt kein Raum für Gleichbehandlung.

Als Mitglied der UNO ist die Schweiz verpflichtet, die Charta anzuwenden, also muss sie sich gegen den Aggressor Russland stellen. Ist die Neutralität damit eigentlich aufgehoben?

Das stimmt. Es stimmt auch historisch. Zur Unterzeichnung der UNO-Charta 1945 war die Schweiz als neutraler Staat nicht eingeladen. Die anderen Staaten haben gesagt, es gebe  keine Neutralität gegen jene, welche die UNO-Charta verletzen. Das sogenannte Wiener Übereinkommen, der völkerrechtlichen Vertrag über das Recht der Verträge (1969), sagt, dass neuere völkerrechtliche Bestimmungen, die älteren widersprechen, Vorrang haben. Also hat die jüngere Charta von 1945 Vorrang gegenüber den Haager Abkommen.

Deshalb nennen Sie die Haager Abkommen obsolet?

Man muss sich auch etwas anderes vorstellen. Damals, beim Haager Abkommen von 1907, war Krieg noch erlaubt. Das war noch vor dem Völkerbund. Es war eine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, so schon Machiavelli und Clausewitz. Es gibt aber kein Luftkriegsabkommen, es  gab noch gar keinen Luftkrieg. Die heutigen Mittel der hybriden Kriegführung sind nicht geregelt. Die Haager Abkommen wurden nie aktualisiert, beispielsweise auf Cyberkrieg oder die Desinformation via IT,  Drohnen. Das sind heute hybride Kriegsmittel.  Bundesrat Pfister hat kürzlich gesagt, wir seien in einem hybriden Krieg.

Das war einer unserer letzten SGA-ASPE-Veranstaltungen.

Und wenn Sie die jüngsten Beschlüsse der sicherheitspolitischen Kommission des Ständerates ansehen, dann merkt man, dass auch diese Rede überhaupt nicht zur Kenntnis genommen worden ist.

Eine Laienfrage zu den Haager Abkommen. Das ist ja nicht ein Vertrag, in dem die Schweiz sich verpflichtet hat, auf immer und ewig und in jedem Fall neutral zu sein, sondern eine Art Reglement für diejenigen, die sich als neutral erklären. Kann die Schweiz nicht in eigener Kompetenz entscheiden, in diesem oder jenem vorliegenden Fall nicht neutral zu sein und in anderen Fällen bei der Neutralität und den Haager Verpflichtungen bleiben?

Das ist an sich richtig, nur nicht fallweise gestützt auf die Haager Abkommen. Entweder ist  man diesen beigetreten oder nicht. Oder man kündigt die Zugehörigkeit. Oder man erklärt sie neutralitätsrechtlich für obsolet. Eine Verpflichtung dazuzugehören, besteht nicht. Nur 32 Staaten haben alle unterschrieben, 44 das Landkriegs-, 38 das Seekriegsabkommen. Das sagt auch der Bundesrat in der Botschaft zur Neutralitätsinitiative: die Schweiz sei völkerrechtlich zur Neutralität nicht verpflichtet. Also gibt es auch keine verpflichtende völkerrechtliche Grundlage betreffend die Neutralität mehr. Zudem widersprechen  die Neutralitätsbestimmungen der Haager Abkommen, wie gesagt, der Charta grundlegend. Es kann kein Nebeneinander geben, weil die Charta zwischen dem Aggressor und dem Opferstaat klar unterscheidet . Der Aggressor wird in Artikel 2 genannt, übrigens nicht nur bezüglich Gewalt, sondern auch puncto Respektierung der territorialen Unversehrtheit. Und das Opfer wird in Artikel 51 genannt und dort heisst es, es habe das naturgegebene Recht zur kollektiven Selbstverteidigung. Das kann mit den Haager Abkommen punkto Gleichbehandlung nicht in Übereinstimmung gebracht werden.

Das «Manifest 21», das Sie eingangs erwähnten – Sie gehören zu den Mitverfassern – nennt 10 Punkte « für eine Neutralität im 21. Jahrhundert». Können Sie das auf eine einzige Kernaussage reduzieren?

Das «Manifest 21» möchte, dass man sich von  jeglicher rechtlichen Bindung der Neutralität löst, auch gedanklich, und Neutralität allenfalls als reine aussen- und sicherheitspolitische  Möglichkeit beibehält. In  Situationen, weit weg, in denen man nicht weiss, wer angreift und wer angegriffen wird, ist es denkbar, dass man sich da rein politisch neutral verhält, aber fern jeglicher rechtlichen Bindung, ob völkerrechtlich oder national.

«Weit weg» ist das Stichwort. Wir befinden uns im innenpolitischen Kontext der Neutralitätsinitiative, deren praktischer Zweck es ist, die Beteiligung der Schweiz an Sanktionen der EU zu verbieten. Wenn Sie «weit weg» sagen: Machen Sie einen Unterschied zwischen Situationen auf unserem europäischen Kontinent und solchen auf anderen Kontinenten, Afrika, oder Asien?

Das ist an sich nicht ganz falsch interpretiert. Aber «weit weg» bezieht sich eigentlich auf die Kenntnisse der Ursachen einer Auseinandersetzung zwischen zwei Staaten oder Staatengruppen, wenn wir nicht wissen, was wirklich geschieht oder geschehen war und weshalb. Und ob es sich um einen innerstaatlichen oder zwischenstaatlichen bewaffneten Konflikt handelt. Das kann in Afrika, das kann in Asien sein. In Europa glauben wir uns einigermassen auszukennen. Aber das hat nichts mit den wirtschaftlichen Sanktionen zu tun.

Wie das? Die Schweiz hat sich aus Neutralitätsgründen jahrzehntelang wirtschaftlichen Sanktionen verweigert und den «courant normal» ausgerufen: Die Geschäfte mit boykottierten Ländern – beispielsweise Südafrika – liess man weiterlaufen, aber auf dem «normalen» Niveau, angeblich ohne aus den Boykotten Profit zu schlagen.

Zunächst nochmals zur Unterscheidung inner- und zwischenstaatlich. Südafrika war nicht in einen zwischenstaatlichen Konflikt involviert, sondern wegen der Rassendiskriminierung sanktioniert worden. Wirtschaftliche Sanktionen ohne zwischenstaatlichen bewaffneten Konflikt sind an sich ein Widerspruch zu einer sogenannten permanenten oder immerwährenden Neutralitätspolitik. Denn was heisst immerwährend? Die Neutralität bezieht sich auf eine Lage Unbeteiligter, wenn zwei andere Staaten oder Staatengruppen miteinander in einem bewaffneten Konflikt stehen. Aber immerwährend, das ist dann auch sonst, ohne eine solche Situation. Man sollte dann auch neutral sein, wenn andere nicht in einem bewaffneten Konflikt stehen. Da gibt es ja das Beispiel aus dem Kalten Krieg, als die Sowjetunion noch bestand.

Das Hotz-Linder-Abkommen, die informelle Absprache zwischen dem Schweizer Volkswirtschaftsdepartement und dem US-Aussenministerium von 1951.

Da hat die Schweiz auf Druck der Amerikaner stillschweigend die Bestimmungen von CoCom, die westlichen Handelsbeschränkungen gegenüber der Sowjetunion,  eingehalten. Was war da neutral? Oder: wir  sind bei Schengen dabei. Was heisst denn das? Das sind alles EU- oder assoziierte Staaten, die sich auf den Kampf gegen Schwerverbrechen eingeschworen und ein ganzes Regelwerk aufgestellt haben. Diese Abwehr richtet sich beispielsweise auch gegen Terrorismus, der direkt oder indirekt von anderen Staaten ausgeht. Das hat mit Neutralität nichts zu tun.

Aber mit Sicherheit.

Mit Sicherheit hat es sehr viel zu tun, aber nicht mit Neutralität. Allein dass wir bei Schengen sind, bezeugt, dass wir an der Sicherheit, der Rechtsstaatlichkeit unddemokratisch erlassenen Beitritten zu völkerrechtlichen Übereinkommen interessiert sind und auch dazu stehen. Und nicht neutral sind gegenüber Mächten, welche die Sicherheit mit terroristischen oder anderen kriminellen Methoden verletzen wollen.

Auf die Ukraine bezogen folgt aus Ihren Ausführungen, dass die Schweiz sich zum einen von neutralitätspolitischen Überlegungen verabschieden muss, weil der russische Angriff die UNO-Charta verletzt, und dass sie zum andern auch aktiv an der militärischen Verteidigung der Ukraine teilnehmen muss. Richtig?

Da muss man unterscheiden. Den ersten Punkt bejahe ich. Die Schweiz kann sich in diesem Aggressionskrieg Russlands gegen die Ukraine nicht neutral verhalten. Verbal tut sie das nicht, sie ist auch den meisten Wirtschaftssanktionen gegen Russland gefolgt. Aber durch ihre Haltung verletzt sie die UNO-Charta, indem sie die Wiederausfuhr von in der Schweiz gekauften Kriegsmaterials nach der Ukraine verbietet. Das verletzt die UNO-Charta, weil damit nicht zwischen Aggressor und Opferstaat unterschieden wird. Zum zweiten Punkt, der militärischen Beteiligung, unterscheidet die Charta zwischen diplomatischen, wirtschaftlichen und militärischen Sanktionen einerseits und der militärischen Beteiligung an der Verteidigung des Opferstaates mit Truppen andererseits. Dazu müssen alle Staaten, die dazu bereit sind, ein Zusatzabkommen mit dem Sicherheitsrat der UNO abschliessen, in dem festgelegt, wie viele und welche Art von Truppen zur Verfügung gestellt werden. Das muss einzelstaatlich geschehen. Diese Frage  muss man vollkommen trennen von den übrigen Sanktionen, beispielsweise Überflugrechte, Durchmarschrechte oder eben Ausfuhr und Wiederausfuhr von Kriegsmaterial.

Nun sprechen Sie von einer militärischen UNO-Massnahme. Das ist unrealistisch, der UNO-Sicherheitsrat ist im Fall Ukraine gelähmt. Aber wenn der Kontinent Europa angegriffen ist, wie Sie sagen, muss er sich wehren. Es  gibt Bestrebungen sich militärisch so aufzustellen, dass nach der Ukraine nicht weitere Angriffe kommen. Die Frage ist, ob und wie die Schweiz sich hier einbringen soll.

Zunächst: Falls der UNO-Sicherheitsrat wegen eines Vetos unfähig ist festzustellen, wer Aggressor und wer Opfer ist, kann dies die UNO-Generalversammlung. Das ist auch zweimal geschehen. Zum Zweiten: Das trifft zu. Hier beantragt die Sicherheitskommission des Ständerates, eine vom Nationalrat bereits gefasste Motion, wonach der Bundesrat mit der EU Verhandlungen über eine mögliche Verteidigungskooperation aufnehmen soll, auch auf die NATO auszudehnen.  Aber der Pferdefuss wird gleich mitgeliefert: Die Mehrheit der Ständeratskommission hält fest, dass die Schweizer Neutralität «bis zum Eintreten des Verteidigungsfalles» gewahrt werden soll. Wann beginnt der Verteidigungsfall? Muss man das einem Vernehmlassungsverfahren unterwerfen? Wer bestimmt das? Das ist auch nach der Verfassung gar nicht klar.

Bundesrat Pfister hat gesagt, der Krieg werde nicht an den Grenzen anfangen, und die Schweiz befinde sich bereits im Krieg. Er sagte auch, es wäre «ein verheerendes Zeichen», wenn die Schweiz die EU-Sanktionen gegen Russland nicht mitmachte

Da war das berühmte Wochenende vom 26. Februar 2022…

…als der Bundesrat zauderte, die EU-Sanktionen gegen Russland zu übernehmen…

Ja. Während des Irak Krieges stellte der Bundesrat fest, punkto Neutralität bestehe die Gefahr nicht länger in der Teilnahme an wirtschaftlichen Sanktionen, sondern im Abseitsstehen, was die Glaubwürdigkeit des schweizerischen Neutralitätsstandpunktes in Frage stelle. Daran hat er im Februar 2022 offenbar nicht mehr gedacht. Das EDA bekam einen Anruf aus dem Ausland: entweder vollzieht ihr diese Sanktionen sofort, oder die Schweiz wird als Ganzes sanktioniert.

Sind Sie sicher, dass es eine solche Drohung gegeben hat? Wissen Sie, woher der Anruf kam?

Ja, aber dazu sage ich nichts.

Kam er aus Europa oder aus Übersee?

Ich sage nichts weiter.

Das ist schade. Kehren wir zu unserem Ausgangspunkt, der jährlichen ETH-Umfrage, zurück.  Erwarten Sie ein weniger eindeutiges Meinungsbild, wenn sie gemäss Ihren Vorstellungen abgeändert wird?

Ich hoffe es zumindest. Es ist natürlich schwierig: Die jüngsten Ergebnisse der Medienforschung sagen, dass 46% der Schweizer sogenannt newsdepriviert seien. Das heisst, sie lesen überhaupt keine Nachrichten, auch keine politischen.

Was heisst  für die dereinstige Abstimmung über die Neutralitätsinitiative? 

Prognosen sind im Moment noch recht schwierig zu stellen. Ich hoffe, dass eine neue  Umfrage eine gewisse Aufweichung bringt, dass mindestens diese 87 Prozent für die Neutralität deutlich runtergehen.

 

 

 

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